„Eine psychosomatische Erkrankung ist keine Einbildung“
Körperliche Beschwerden, aber kein organischer Befund? Psychische Symptome als Begleiterscheinung einer somatischen Erkrankung? Das sind zwei Seiten ein und derselben Medaille, sagt Primaria Larisa Dzirlo vom Barmherzige Schwestern Krankenhaus Wien.
Dzirlo leitet die III. Medizinische Abteilung für Innere Medizin und Psychosomatik, wo Menschen mit Krankheitsbildern behandelt werden, bei denen psychosoziale Faktoren eine wesentliche Rolle spielen. Vor über 30 Jahren wurde die psychosomatische Medizin in ihr Leistungsspektrum integriert, bis heute ist ihr darauf basierendes stationäres und ambulantes Angebot einzigartig in Österreich. Ihr Fokus: das Zusammenwirken von Körper und Seele. Im Gespräch mit INGO erklärt die Primaria, warum es viel mehr derartige Anlaufstellen braucht und worauf es in der psychosomatischen Medizin ankommt.
Was versteht man unter einer psychosomatischen Erkrankung?
Larisa Dzirlo: Die Definition, was eine psychosomatische Erkrankung ist, ist gar nicht so einfach. Körper und Psyche sind nicht losgelöst voneinander, sie sind zwei Seiten einer Medaille. Wie sie im Einzelfall zusammenwirken und was das für die individuelle Krankheitsentstehung, den Verlauf und die Prognose bedeutet, ist sehr komplex. Einerseits können psychisch oder sozial belastende Faktoren Gesundheitsprobleme hervorrufen oder verstärken, zum Beispiel Bluthochdruck. Auch so genannte somatoforme Beschwerden ohne konkreten organischen Befund kommen häufiger vor, als man denkt. Andererseits können sich körperliche Krankheiten auf die Psyche auswirken, etwa wenn jemand mit einer chronisch entzündlichen Darmerkrankung oder Diabetes zusätzlich Depressionen entwickelt. Oder nehmen wir einen der fachlichen Schwerpunkte an unserer Abteilung, die Essstörungen. Für eine effiziente Therapie ist es bedeutsam zu wissen, ob vielleicht eine traumatische Erfahrung dahintersteckt, eine Angststörung damit verwoben ist, wie das soziale Umfeld der Betroffenen aussieht, aber auch wie gravierend die damit verbundenen körperlichen Erscheinungen bereits sind. Das heißt, die psychosomatische Medizin berücksichtigt grundsätzlich die enge Wechselwirkung zwischen Körper und Seele, bezieht auch die sozialen Umstände mit ein und widmet sich sowohl der somatischen als auch der psychischen Dimension einer Erkrankung. In ihrem Behandlungskonzept gibt es diesbezüglich kein Entweder-oder.
Welche Herausforderungen bringt dieser ganzheitliche Ansatz für die Behandler*innen mit sich?
Die größte Herausforderung sind eigentlich die Vorurteile gegenüber dem Begriff „psychosomatisch“. Für viele klingt das so, als müsse man bestimmte Beschwerden nicht ernst nehmen, als seien sie eher eine persönliche Schwäche als eine Krankheit. Das ist aber ein eklatantes Missverständnis. Psychosomatische Krankheiten und Beschwerden sind keine Einbildung, sie können sogar schwerwiegend sein. Es ist wichtig, alle daran beteiligten Faktoren zu verstehen und zu behandeln. Daher bedaure ich es sehr, dass sich immer noch manche Patient*innen schämen, wenn man die psychische Komponente ihrer Beschwerden anspricht. Dabei geht es hier um ganz normale Prozesse, sie sind weder eine Schande noch eine Niederlage, sondern völlig wertfrei. Als Behandler*innen versuchen wir, den Menschen die Hemmschwelle zu nehmen. Die Motivation und die Krankheitseinsicht der Patient*innen sind eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass die Therapien zu einer Besserung führen. Inzwischen sind so viele Mechanismen der Psychosomatik gut erforscht, es ist wirklich an der Zeit, dieses Tabu hinter sich zu lassen.
Im Barmherzige Schwestern Krankenhaus Wien, speziell an Ihrer Abteilung für Innere Medizin und Psychosomatik, hat die psychosomatische Medizin eine lange Tradition. Wie kam es dazu?
Das liegt an der Weitsicht und Pionierarbeit von Primarius Peter Weiss, der hier vor mehr als 30 Jahren die ersten psychosomatischen Angebote etabliert und die Psychosomatik in die Abteilung für innere Medizin integriert hat. Er hat sie bis zu seiner Pensionierung zwei Jahrzehnte lang erfolgreich geleitet und ausgebaut. Im Lauf der Zeit sind die Betten-, Patient*innen- und Personalzahlen stark gewachsen. Die Anzahl der Patient*innen etwa hat sich seit 1996 verfünffacht. Allein in den vergangenen zehn Jahren hat sie sich mehr als verdoppelt. Wir haben hier ein evidenzbasiertes stationäres und ambulantes psychosomatisches Angebot, wobei der Schwerpunkt auf der Gastroenterologie und auf Essstörungen liegt. So kommen beispielsweise Patient*innen mit chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen wie Morbus Crohn oder Colitis ulcerosa, Reizdarmsyndrom, funktionellen Magen-Darm-Störungen, Diabetes, Anorexie, Bulimie oder Adipositas zu uns.
"Wir sehen uns den gesamten Lebenskontext einer Person an, alle körperlichen, psychischen, biologischen und sozialen Aspekte."
Wie gehen Sie vor, um dem vielschichtigen psychosomatischen Ansatz gerecht zu werden?
Dies kann nur in einem multidisziplinären Team gelingen. An unserer Abteilung befassen sich Internist*innen, Psychiater*innen, Psychotherapeut*innen, Diätolog*innen, Physiotherapeut*innen, Seelsorger*innen, Sozialarbeiter*innen und Pflegende mit dem Thema. Jede Profession bringt ihre Expertise und ihren Blickwinkel ein. Und wenn wir die Puzzlesteine zusammenfügen, haben wir ein komplettes Bild, an dem wir gemeinsam ansetzen können. Dabei gehen wir von einem biopsychosozialen Modell aus. Das bedeutet, wir sehen uns den gesamten Lebenskontext einer Person an, alle körperlichen, psychischen, biologischen und sozialen Aspekte. Wir erheben, berücksichtigen und behandeln Komorbiditäten. Zeit für ein ausführliches Anamnesegespräch ist unabdingbar. Es geht darum, die richtigen Fragen zu stellen und gut zuzuhören, natürlich ergänzt von den nötigen körperlichen Untersuchungen. So können wir das jeweils geeignete Behandlungsprogramm für die Patient*innen herausfinden. Und nicht zuletzt wollen wir, dass sie sich bei uns gut aufgehoben fühlen. Als erste Anlaufstellen hat unsere Abteilung gleich mehrere Ambulanzen: die Psychosomatik-Ambulanz, die Morbus-Crohn-, Colitis-ulcerosa- und Reizdarm-Ambulanz, die konservative Adipositas-Ambulanz sowie die Diabetes-Ambulanz. Der Zugang ist niederschwellig, es braucht nur eine Zuweisung.
Wie sieht die Bandbreite der Behandlungsmöglichkeiten aus?
Wenn die Symptomatik sehr schwerwiegend ist oder das Ausmaß der psychosozialen Belastungen die individuellen Ressourcen der Patient*innen und ihres sozialen Umfelds übersteigen, ist ein stationäres Programm indiziert. Dazu gibt es hier die Möglichkeit eines dreiwöchigen Aufenthalts für Patient*innen mit internistischen Erkrankungen plus psychischer Komponente sowie ein achtwöchiges Programm überwiegend für Menschen mit Essstörungen, aber auch mit somatoformen Leiden wie zum Beispiel Schmerzsymptomatiken oder Darmerkrankungen mit starker Beteiligung der Psyche. Darüber hinaus bieten wir für schwer unterernährte anorektische Patient*innen eine stationäre Aufnahme an, wo sie in erster Linie medizinisch, aber auch psychotherapeutisch versorgt werden. Alle Programme sind multimodal, das heißt, die Maßnahmen reichen von Gruppen- und Einzelpsychotherapie über internistische und psychiatrische Diagnostik und Behandlung bis zu diätologischer Beratung, Selbstkompetenztraining, Gymnastik, Entspannungstechniken und anderen heilsamen Aktivitäten. Für Patient*innen, die stabil genug für eine ambulante Behandlung sind, haben wir eine Tagesklinik, wo sie sich acht Wochen lang von Montag bis Freitag ganztägig einfinden. Des Weiteren haben wir eine so genannte Coping School für Patient*innen mit Adipositas. Diese findet zehn Wochen lang einmal pro Woche statt, wobei der Fokus auf Gesprächsgruppen, Bewegungstherapie, Diätberatung, Akupunktur und Psychoedukation liegt. Coping bedeutet das Erlernen eines adäquaten Umgangs mit der Erkrankung. Das Ziel ist es, die Lebensqualität zu erhöhen und einen gesunden Lebensstil zu erreichen. Und last but not least arbeiten wir eng mit dem Kompetenzzentrum für Menschen mit Essstörungen sowhat zusammen, das zur Vinzenz Gruppe gehört. Es bietet für diese Patient*innengruppe an drei Standorten in Wien, St. Pölten und Mödling eine intensive kassenfinanzierte ambulante Behandlung an.
"Psychotherapie stabilisiert und empowert die Patient*innen und motiviert zur Veränderung."
Welche Rolle spielt die Psychotherapie?
Eine enorm wichtige. Wir betrachten sie als gleichwertig mit medizinischen Interventionen. Psychotherapie stabilisiert und empowert die Patient*innen und motiviert zur Veränderung. Es ist gut belegt, dass sie wirkt. Glücklicherweise ist sie auch schon mehr in der Gesellschaft angekommen, die Menschen sind offener dafür geworden. Der finanzielle Aspekt ist allerdings ein Knackpunkt. Sie sollte nicht nur für jene etwas sein, die es sich leisten können. Das betrifft auch unsere Patient*innen, sobald sie das Programm bei uns beendet haben. Viele würden dann von einer externen Fortsetzung der Psychotherapie profitieren. Aus meiner Sicht braucht es hier dringend eine Reform, die den Zugang dazu und die Abrechnung auf Krankenschein erleichtert.
Was ist alles notwendig, damit die Behandlung Fortschritte macht?
Essenziell ist die Einsicht, dass die Psyche eine Rolle spielt, und die Bereitschaft, sich auf psychotherapeutische Gespräche einzulassen. Mit der Zeit steigt dann das Bewusstsein für die eigenen inneren Mechanismen. Wenn die Patient*innen das schaffen, ist schon ein ganz wichtiger Schritt getan. Je nachdem, wie lange die Erkrankung bereits besteht, kann es ein längerer oder kürzerer Weg sein. Eine akute Krise ist vielleicht schneller bewältigt als ein langjähriges chronisches Leiden, in jedem Fall braucht es aber Hoffnung und Perspektive. Sowie natürlich die Werkzeuge, die die Teilnehmer*innen unserer Programme bei uns in die Hand bekommen, um auch herausfordernde Phasen zu meistern. Es ist uns ein Anliegen, dass sie sich danach nicht allein durchkämpfen müssen, sondern weiterhin Unterstützung finden, zum Beispiel im niedergelassenen Bereich oder im sozialen Umfeld. Wir versuchen auch, ein Auffangnetz zu schaffen. Bei den Patient*innen mit Essstörungen etwa hat das durch die Kooperation mit sowhat gut funktioniert. Auf Wunsch können sie dort nach der stationären Zeit bei uns ambulant weiterbetreut werden. Bei Fortschritten freuen wir uns mit, etwa wenn es jungen Patient*innen gelingt, wieder ins Studium oder Arbeitsumfeld zurückzukehren. Gerade heute hat mir eine Patientin der Coping School berichtet, dass sie heuer 28 Kilo abgenommen hat. Sie sagte, die Coping School habe ihr die Augen geöffnet. Solche erfreulichen Nachrichten gibt es immer wieder. Man darf nie den Mut verlieren.
Sie sprachen davon, dass sich die Anzahl der psychosomatischen Patient*innen auf Ihrer Abteilung in den vergangenen zehn Jahren verdoppelt hat. Woran liegt das?
Nun, einerseits sicherlich daran, dass unser Psychosomatik-Angebot mittlerweile weithin bekannt und etabliert ist. Wir sind zudem die einzige derartige Einrichtung in ganz Österreich, zu uns kommen sogar Patient*innen aus den Bundesländern. Andererseits ist der Zusammenhang von psychischen Prozessen und Krankheiten inzwischen schon recht gut erforscht. Wir haben valide Erkenntnisse über die Auswirkungen von Stresshormonen auf den Körper oder die Verbindung zwischen Darm und Gehirn, die so genannte Darm-Hirn-Achse. Es wird medial über solche Dinge berichtet. Dadurch haben die meisten Menschen zumindest schon einmal etwas von Psychosomatik gehört und können diesen Gedanken in Erwägung ziehen, wenn sie vielleicht trotz Odyssee durch die Ordinationen keine Lösung für ihr gesundheitliches Problem gefunden haben. Allgemein weiß man einfach mehr darüber als vor dreißig, vierzig Jahren. Und ein dritter Grund könnte sein, dass wir tatsächlich in belastenden Zeiten leben. Pandemie, Kriege, Inflation, Klimakrise – es gibt zurzeit viele Unsicherheiten. Das macht Druck und Stress, was sich unter Umständen negativ auf die körperliche und seelische Gesundheit auswirkt. Leider kommen wir durch den zunehmenden Behandlungsbedarf selbst manchmal an die Grenzen unserer Kapazitäten. Österreich bräuchte viel mehr solcher Angebote.
Das Krankenhaus der Barmherzigen Schwestern Wien ist das einzige in Österreich mit einem so umfassenden evidenzbasierten psychosomatischen Behandlungsangebot. Warum zeigt niemand Interesse, es Ihnen nachzumachen?
Das weiß ich nicht, ich kann nur für unser Haus sprechen. Aber vielleicht hat es damit zu tun, dass es tatsächlich sehr viele Ressourcen braucht, um eine derartige Psychosomatik-Abteilung mit stationärem und ambulantem Angebot aufzubauen und zu betreiben. Das beginnt bei den Ausbildungen, unsere Ärzt*innen haben alle eine psychosomatische oder psychotherapeutische Zusatzausbildung. Es gilt ein multiprofessionelles Team zu finden und zu halten. Es braucht viel Kommunikation untereinander und auch Supervisionen. Das ist natürlich aufwändig.
Darüber hinaus ist unser medizinisches System aufgrund der Fortschritte der Forschung und der heutigen High-Tech-Möglichkeiten sehr komplex, es gibt viele Spezialisierungen und Subspezialisierungen. Der Ausschnitt der Medizin, den diese bearbeiten, ist oft so kompliziert, dass es schwierig ist, auch noch einen ganzheitlichen Blick zu bewahren. Als Internistin und Psychosomatik-Medizinerin sehe ich aber, dass mehr Angebote wie unseres sehr wichtig wären. Die stationäre Versorgung schwer anorektischer Patientinnen zum Beispiel ist in Österreich absolut unzureichend. Auch in puncto anderer Essstörungen bräuchte es viel mehr medizinische Betreuung.
Interview: Uschi Sorz, Fotos: Alek Kawka, www.de.depositphotos.com
Larisa Dzirlo, Prim. Dr. MSc
Leiterin der III. Medizinischen Abteilung für Innere Medizin und Psychosomatik am Barmherzige Schwestern Krankenhaus Wien
Dzirlo leitet die III. Medizinische Abteilung für Innere Medizin und Psychosomatik am Barmherzige Schwestern Krankenhaus Wien. Sie ist Fachärztin für Innere Medizin, Gastroenterologie und Hepatologie, Ärztin für psychosomatische Medizin und Psychotherapeutin.