„Versorgungsforschung und Kooperation dürfen nicht nur Schlagwörter sein“
Die Tumordatenbank des Tumorzentrums Oberösterreich gilt europaweit als vorbildlich. Seit 2012 wurden mehr als 80.000 Krebsfälle dokumentiert. Im Gespräch mit INGO zieht der Leiter des Tumorzentrums, Ansgar Weltermann, eine Zwischenbilanz.
Vor elf Jahren wurde die Tumordatenbank ins Leben gerufen, seit 2022 sind alle onkologisch tätigen Spitäler in Oberösterreich daran beteiligt. Was waren die wichtigsten Meilensteine?
Ansgar Weltermann: Ich würde zwei Punkte nennen: Erstens, seit 2022 wissen wir erstmalig, wie viele und welche Krebsneuerkrankungen in Oberösterreich pro Jahr tatsächlich auftreten. Zudem können wir zunehmend Entitäts- und Therapie-bezogene Aussagen zum Behandlungsansprechen tätigen. Zweitens, die Daten der Tumordatenbank werden jede Nacht in das Data-Warehouse des Tumorzentrums übertragen. Im Data-Warehouse können wir die Daten der Tumordatenbank mit verschiedenen onkologischen Leistungs- und Bewegungsdaten aus den Krankenhausinformationssystemen der Spitäler verknüpfen. Hat der Patient eine Sozialberatung erhalten, wurde ihm in den letzten Lebenstagen eine Blutkonserve transfundiert oder wann ist das Palliativteam in einer nicht kurativen Situation erstmalig hinzugezogen worden? Das sind Beispiele für Qualitätskriterien, die im Kontext einer Krebserkrankung wichtig sind. Dadurch vermeiden wir auch eine sinnlose Doppelerfassung.
Lief das alles völlig reibungslos ab?
Der Aufbau der Tumordokumentation war ein evolutionärer, teilweise langsamer Prozess. So haben wir große Fehler vermeiden können. Uns war bewusst, dass es aufgrund der Komplexität, zum Beispiel der Unterschiedlichkeit der vielen Erkrankungen, Jahre dauert, bis man eine wirklich sehr gute Datenqualität im Register erreicht. Vor zwei Jahren haben wir aufgrund von Zertifizierungsvorgaben versucht, ein gemeinsames Tumorboard für alle Patienten mit Brustkrebs zu etablieren. Das hat definitiv die Zeitressourcen der Ärzte gesprengt, viel Unmut hervorgerufen und die Qualität definitiv nicht gesteigert. Das haben wir rasch korrigieren müssen. Und die Zertifizierungsgesellschaft hat da auch eingelenkt und ihre eigenen Vorgaben revidiert.
War die Schwierigkeit des Aufbaus einer qualitativ hochwertigen Tumordokumentation allen Beteiligten von Anfang an klar?
Im Gespräch zwischen den Ärzten und den Geschäftsführern wurde vor zehn Jahren sehr schnell klar, dass eine gute Datenqualität nicht erreicht werden kann, wenn die Ärzte die Daten selbst erfassen. Hier kam uns auch der Ärztemangel entgegen: dieser hat dazu geführt, dass hauptamtliche Tumordokumentare in den Spitälern angestellt wurden.
Ein Arzt soll in erster Linie Arzt sein und nicht Dokumentar.
Genau. Die Dokumentare unterstützen die Ärzte im klinischen Alltag, weil sie neben Auswertungen aus der Tumordatenbank auch bei der Durchführung der Tumorboards unterstützend sind. Die Dokumentare geben in die Anmeldemaske zum Tumorboard die Daten zur Krebserkrankung und die vom Hauptbehandler vorgesehene Behandlung ein und dokumentieren im Tumorboard die finale Behandlungsempfehlung der Experten. Nachdem die Tumorboards über die Software der Tumordatenbank abgewickelt werden, sind mit dem Tumorboard gleichzeitig schon viele Daten zur Krebserkrankung in der Tumordatenbank erfasst. Und die unmittelbare Zusammenarbeit zwischen Ärzten und Tumordokumentaren im Tumorboard fördert auch die Qualität in der Datenerfassung.
Wie viele Tumordokumentare gibt es in Oberösterreich?
Es sind derzeit 45 Personen, viele sind in Teilzeit beschäftigt. Sie werden direkt von den Spitälern angestellt. Je nach Anzahl der zu betreuenden Krebspatienten sind es zwischen zwei und acht Dokumentare in einem Spital.
"Die Ärzte bekommen über die Tumordatenbank Informationen, anhand derer sie reflektieren können, ob das, was sie tun, gut ist oder wo sie besser werden können."
Was genau haben die Ärzte von der Tumordatenbank?
Die Ärzte in den Spitälern erhalten eine Rückmeldung über das Betreuungsvolumen und über die Betreuungsqualität. Voraussetzung ist eine vollständige Erfassung, also eine gute Dokumentationsqualität. Wurden beispielsweise die Therapien nur teilweise erfasst, ist eine Aussage zur Behandlungsqualität nur eingeschränkt oder gar nicht möglich. Ist die Qualität der Dokumentation hingegen sehr gut, können die Ärzte für sich ableiten, wie es um die medizinische Behandlungsqualität bestellt ist. Sie erhalten dazu auch die Daten der Patienten auf Einzelfallebene, um sich nochmals Gedanken zu machen, warum beim einzelnen Patienten etwas nicht wie vorgesehen verlaufen ist. Hätten wir beispielsweise rückblickend bei einem Patienten vielleicht doch auf eine Chemotherapie verzichten sollen? Die Ärzte bekommen über die Tumordatenbank Informationen, anhand derer sie reflektieren können, ob das, was sie tun, gut ist oder wo sie besser werden können.
Und was haben die Patienten, um die es ja letztlich immer geht, von der Tumordatenbank?
Es besteht kein unmittelbarer Nutzen für den einzelnen Patienten. Der Nutzen ist aber definitiv indirekt gegeben: die Beschäftigung der Ärzte mit der Behandlungsqualität fördert eine Kultur der Weiterentwicklung. Als Beispiel ist das Tumorboard zu nennen. Es ist bekannt, dass die konsequente Durchführung eines prätherapeutischen Tumorboards die Behandlungsqualität hebt. In den letzten Jahren ist in den Spitälern des Tumorzentrums eine klare Steigerung der präoperativen Vorstellungsrate im Tumorboard erkennbar. Dies wäre ohne Aufzeigen der Daten nicht passiert.
Ist das System bereits perfekt?
Nein, das System ist natürlich nicht perfekt. Von jetzt an wird es noch einige Jahre dauern, bis wir tatsächlich in allen einzelnen Fachgebieten eine valide Tumordokumentation von Ersterfassung über die Behandlung bis zur Nachsorge erreicht haben. Die Auswertungen in manchen Spitälern und Fachgebieten haben noch nicht den Tiefgang, wie es die Ärzte benötigen. In Spitälern, in denen eine onkologische Zertifizierung vorgenommen wird, sind wir schon gut unterwegs, in anderen Bereichen ist noch Luft nach oben. Das ist aber nur eine Frage der Zeit.
"Zukünftig soll es möglich sein, beispielsweise die Erfolgsrate einer neuen Behandlungsmethode live mitzuverfolgen."
Können Sie zum Beispiel heute schon auf Knopfdruck sagen, wie viele Patienten wir mit welcher Tumorentität in welchem Stadium haben und welche Therapie sie jeweils bekommen?
Epidemiologische Daten zu den einzelnen Krebserkrankungen, beispielsweise Häufigkeit, Altersverteilung, Stadium, Rezidivrate, Überleben, haben wir bereits jetzt auf Knopfdruck. Bei manchen Erkrankungen, wie beim Brustkrebs, sind auch schon die klinischen Daten, beispielsweise das Ansprechen auf Operation, Strahlentherapie oder medikamentöse Therapie, auf Knopfdruck verfügbar. Die Dokumentationstiefe ist in den Spitälern aber noch sehr unterschiedlich. Im Moment haben wir ein jährliches Berichtswesen für die Spitäler etabliert. Ein detaillierteres und stärker auf die spezifische Erkrankung fokussiertes Berichtswesen bauen wir derzeit auf, um auch hier Daten auf Knopfdruck zur Verfügung stellen zu können. Zukünftig soll es möglich sein, beispielsweise die Erfolgsrate einer neuen Behandlungsmethode live mitzuverfolgen. Mit jedem weiteren behandelten Patienten werden die Daten automatisch aktualisiert und stehen den behandelnden Ärzten on-time zur Verfügung.
Die Tumordatenbank umfasst mittlerweile mehr als 80.000 Krebsfälle aus ganz Oberösterreich. Letztlich sollte wohl durch jeden neuen Fall die Ärzteschaft ein bisschen schlauer und damit die Versorgung der Krebspatienten noch ein bisschen besser werden, oder?
Wir müssen bereit sein, uns mit den eigenen Daten auseinanderzusetzen, Erkenntnisse zu gewinnen und unser Tun weiterentwickeln. Versorgungsforschung und Kooperation dürfen nicht nur Schlagwörter sein. Beides kann man nicht erzwingen, sondern wir müssen immer wieder Bereiche für einen Mehrwert in der Zusammenarbeit finden und den Austausch zwischen den Fachexperten fördern. Beispiele sind die Erstellung der Leitlinien des Tumorzentrums, trägerübergreifende Tumorboards oder der konstruktive Austausch zu den Ergebnissen der Qualitätsmessung. Hier möchte ich den vielen Fachexpertinnen und Fachexperten danken, die hier in einem großen Bottom-Up-Prozess an der Entwicklung des Tumorzentrums mitgewirkt haben und so auch Corporate Identity zum Tumorzentrum geschaffen haben.
Wie viele Personen arbeiten an der Erstellung der Leitlinien?
An der Erstellung und Revision der Leitlinien arbeiten über 250 Fachexperten mit. Großteils sind es Ärztinnen und Ärzte. Beim jährlichen Tumorzentrumstag, der das nächste Mal am 27. Februar 2024 stattfindet, kommen Ärzte, Pflegefachkräfte, klinische Psychologen und Tumordokumentare zusammen. Die Leitliniengruppen sind aufgefordert, ein Update ihrer Leitlinie vorzubereiten, welche dann auf dem Tumorzentrumstag in einer aktualisierten Form verabschiedet wird. Das ist eine ganz besondere Kultur des Wissensaustausches.
Sie selbst sind Facharzt für Hämatologie und Onkologie und seit 2019 Leiter des Tumorzentrums Oberösterreich sowie des Zentrums für Tumorerkrankungen am Ordensklinikum Linz. Fühlen Sie sich eigentlich mehr als Arzt oder mehr als Datenmanager?
Ich bin zutiefst überzeugt, dass die Beschäftigung mit der eigenen Ergebnisqualität die Behandlung von Patienten verbessert. In meiner Funktion als Leiter des Tumorzentrums habe ich viel mehr Möglichkeiten, hierzu meinen Beitrag zu leisten, als wenn ich Vollzeit als Arzt arbeiten würde. Umgekehrt ist es für mich in der Aufgabe als Leiter des Tumorzentrums notwendig, einen Bezug zum klinischen Alltag und den Patienten zu halten. In der Mischung, tageweise Arzt sein zu dürfen und gleichzeitig Zeit für die Leitung des Tumorzentrums zu haben, kann ich meiner Einschätzung nach am besten zur Entwicklung in Oberösterreich beitragen.
"In Oberösterreich ist eine besondere Konstellation zusammengekommen, die die Entwicklung möglich gemacht hat."
Das Tumorzentrum Oberösterreich gilt europaweit als vorbildlich. Warum hat es bisher so gut funktioniert?
Europa ist groß und es gibt natürlich viele sehr gute Spitzenspitäler und Zentren. Es gibt tatsächlich aber nur wenig Regionen in Europa, in denen strukturierte onkologische Flächenversorgung etabliert wurde, die alle Tumorentitäten erfasst und als wichtige Kernelemente ein Leitlinienprogramm, ein gemeinsames klinisches Krebsregister, spitalsübergreifende Tumorboards und eine medizinische Ergebnisqualitätsmessung beinhaltet. In Oberösterreich ist eine besondere Konstellation zusammengekommen, die die Entwicklung möglich gemacht hat. Auslöser war die Spitalsreform II in Oberösterreich, in welcher die Forderung nach Kooperationen zwischen Spitalsträgern dezidiert eingefordert wurde. Die damals, das heißt 2012, beteiligten Ärzte und Geschäftsführer der Spitäler waren davon überzeugt, dass es sich in der Onkologie lohnt, Ressourcen in eine strukturierte Kooperation zwischen größeren und kleineren Spitälern zu investieren und eine medizinische Qualitätssicherung zu etablieren. Es wurde sehr viel Energie und Herzblut in etwas gesteckt, wovon wir alle nicht wussten, ob es erfolgreich sein wird. Ich bin überzeugt, dass der Schlüssel zum Erfolg darin lag, dass die verantwortlichen Personen zu jedem Zeitpunkt darauf geachtet haben, dass die Entwicklung zu einer Win-Win-Situation für alle Spitäler führt.
Interview: Karl Abentheuer; Fotos: feelimage Matern, Tumorzentrum Oberösterreich
Ansgar Weltermann, Univ. Doz. Dr. med.
Leiter des Tumorzentrums Oberösterreich
Der Facharzt für Hämatologie und Onkologie ist seit 2019 Leiter des Tumorzentrums Oberösterreich sowie des Zentrums für Tumorerkrankungen am Ordensklinikum Linz. Hauptaufgabe ist die Förderung und Weiterentwicklung eines spitals- und trägerübergreifenden onkologischen Netzwerks, das von einer multiprofessionellen Zusammenarbeit der Fachexpertinnen und Fachexperten aus den beteiligten Spitälern lebt. Sein langjähriger Forschungsschwerpunkt war das Thema der venösen Thrombosen, welche gerade bei Krebserkrankungen gehäuft auftreten.