Die Diabetes-Versorgung der Zukunft sollte alle relevanten Gesundheitsberufe integrieren, auch in niedergelassenen Bereich. Das zeigt eine Untersuchung der Gesundheit Österreich.
Text: Karin Lehner
Zwischen 8,2 und 9,9 Prozent der Menschen in Österreich sind an Diabetes mellitus Typ 2 (DM-Typ-2) erkrankt, also bis zu 880.000 Personen. Die steigende Lebenserwartung, der Anstieg von Adipositas und - laut aktueller Studien - auch COVID-19-Reinfektionen werden die Anzahl Betroffener weiter erhöhen.
Mag.a Barbara Fröschl, stellvertretende Abteilungsleiterin Koordination Onkologie in der Gesundheit Österreich (GÖG), kennt das Problem. „Bei linearer Fortschreitung der Entwicklung ist bis 2030 mit einem Anstieg bis auf 11,3 Prozent zu rechnen. Das wären bis zu 1.046.600 DM-Typ-2-Erkrankte.“ Ein großes Problem, schließlich reichen die Folgen von Herz-Kreislauf-Erkrankungen über Schäden an Augen, Nieren und Nerven bis hin zu Krebs und Amputationen. In der österreichischen Diabetes-Strategie aus 2017 wird die Bedeutung einer integrierten Versorgung betont. Doch dafür braucht es die interdisziplinäre und multiprofessionelle Zusammenarbeit aller diabetesrelevanten Gesundheitsberufe, beispielsweise von (Haus-)Ärzt*innen, DGKP oder Diätolog*innen.
Die Forschungs- und Planungsgesellschaft der GÖG untersuchte im Auftrag der Arbeiterkammer die Versorgungslage DM-Typ-2-Erkrankter. Im begleitenden Fachbeirat waren u.a. die Österreichische Ärztekammer (ÄK), nicht ärztliche Gesundheitsdienstleisteranbieter*innen, die Österreichische Diabetes-Gesellschaft und Patient*innen-Anwaltschaft vertreten.
Methodisch wurde mit Online-Fragebögen und qualitativen Expert*innen-Interviews gearbeitet. Mag.a Claudia Habl, COO Programmmanagement Internationale Organisation bei der GÖG - gemeinsam mit Fröschl Hauptautorin der Studie - bedauert jedoch den geringen Rücklauf bei der Online-Erhebung. Die Ergebnisse erheben daher keinen Anspruch auf Repräsentativität, zeigen aber wichtige Tendenzen auf. „Wir konnten durch die gesammelten Informationen Lücken in der Datenlage schließen und den Ist-Stand der Diabetesversorgung in Österreich abbilden.“ Schließlich verfügt das Land über kein vollständiges nationales Diabetes-Register. Und eine standardisierte Diagnosen‐ und Leistungsdokumentation ist derzeit nur im stationären und ambulanten Bereich verpflichtend, nicht jedoch bei niedergelassenen Ärzt*innen.
Ein Problem in der heimischen DM-Typ-2-Versorgung liegt in der Fragmentierung des Gesundheitssystems.
Mag.a Claudia Habl
Der Ländervergleich auf Basis von OECD-Daten aus 2019 zeigt, dass Österreich bei Krankenhaus-Aufnahmen von Diabetes-Erkrankten pro 100.000 Einwohner*innen über dem OECD-Schnitt liegt. Laut Habl spielt mit, „dass wir eine tradierte Krankenhauslastigkeit haben“. Erste Anlaufstellen in punkto Versorgung sollten niedergelassene Ärzt*innen, spezialisierte Diabeteszentren oder Primärversorgungseinheiten (PVE) sein. „In Letzteren können DGKPs und Diätolog*innen ihre Leistungen abrechnen und werden verstärkt in die Behandlung integriert“, erklärt Fröschl. „Bei Hausärzt*innen ist das leider noch nicht der Fall.“
Zwar existiert seit 2007 das Disease-Management-Programm „Therapie Aktiv“ zur berufsgruppenübergreifenden Unterstützung Erkrankter, doch niedergelassene Ärzt*innen sind nicht verpflichtet, es anzubieten. Laut den letzten verfügbaren Daten aus 2023 tut das nur ein Drittel, weswegen nur 20 bis 25 Prozent aller diagnostizierten DM-Typ-2-Patient*innen im Programm eingeschrieben sind. In Deutschland sind es hingegen 58 Prozent. „Ein Problem in der heimischen DM-Typ-2-Versorgung liegt in der Fragmentierung des Gesundheitssystems“, bilanziert Gesundheitsökonomin Habl und bedauert, dass die Finanzierung verschiedener Leistungen aus unterschiedlichen Töpfen kommt.
So gaben rund 70 Prozent aller Teilnehmer*innen der Online-Befragung im Rahmen der Studie an, dass die Abrechenbarkeit von Leistungen nicht ärztlicher Gesundheitsberufe zentral für die Verbesserung der DM-Typ-2‐Versorgung wäre. Beinahe die Hälfte der befragten Ärzt*innen würde bei entsprechender Abgeltung Diätolog*innen, DGKPs mit Zusatzausbildung in Diabetes oder Advanced Practice Nurses in das Team aufnehmen. Außerdem würden es rund 40 Prozent um Bewegungstherapeut*innen und etwa ein Viertel um Psychotherapeut*innen oder klinische Psycholog*innen erweitern. Derzeit übernehmen in rund 60 Prozent der befragten niedergelassenen Einzelpraxen Ärzt*innen die Beratung. In PVE und Gruppenpraxen hingegen nur 21 Prozent.
„Die multiprofessionelle und interdisziplinäre Versorgung in Einrichtungen mit verschiedenen Berufsgruppen bewährt sich“, resümiert Fröschl. Das beweise auch ein Blick nach Skandinavien, wo DGKPs und Diätolog*innen schon seit Jahren eng in die niedergelassene Versorgung von DM-Typ-2-Betroffener eingebunden sind. Eine Verbesserung könnte laut Habl auch der geplante Ausbau von ELGA bieten. „Damit wäre die Behandlung Betroffener für alle involvierten Gesundheitsberufe besser nachvollziehbar.“
Die multiprofessionelle und interdisziplinäre Versorgung in Einrichtungen mit verschiedenen Berufsgruppen bewährt sich.
Mag.a Barbara Fröschl
Für das Jahr 2020 bezifferte die GÖG im Rahmen der Studie die jährlichen Kosten für die Versorgung von DM-Typ-2-Patient*innen auf insgesamt rund 2,1 Milliarden Euro ein. Ein großer Teil entfiel auf den stationären Bereich. Hier landen pro Jahr rund 15 Prozent aller Erkrankten, also rund 85.000 Patient*innen. Sie verursachen Kosten von rund 1 Milliarde Euro. Schließlich führt ein Großteil der DM-Typ 2‐bedingten Folgeerkrankungen zu stationären Aufenthalten.
Dabei wären sie durch eine medikamentöse Therapie und die Änderung des Lebensstils in Richtung mehr Bewegung und gesünderer Ernährung grundsätzlich verhinderbar. Also besteht hier beträchtliches Einsparungspotenzial. Auch der Ausbau in Richtung einer integrierten, multiprofessionellen Versorgung kann laut Habl dazu beitragen, „dass Komplikationen und Folgeerkrankungen verhindert werden und so teure Spitalsaufenthalte reduziert werden können“. Die Gesundheitsökonomin sieht Österreich zwar auf einem guten Weg in der Versorgung von DM-Typ-2-Patient*innen und begrüßt mehr sowie bessere Daten, gibt aber offen zu: „Für den Chance-Prozess im Gesundheitswesen und einen Strukturwandel ist ein langer Atem nötig.“
Fotos: Titelbild Freepik; Porträtbilder GÖG © R. Ettl