11.12.2024
Zahlreiche medizinische Entscheidungen sind im Spannungsfeld zwischen technischer Machbarkeit und Menschlichkeit zu treffen. Damit verbunden sind komplexe ethische Herausforderungen, die im Krankenhaus tätige Berufsgruppen täglich bewältigen müssen. Im Interview mit INGO erklärt die Anästhesistin und Intensivmedizinerin, Palliativmedizinerin sowie Ethikexpertin Univ.-Prof. Dr. Barbara Friesenecker, warum klinische Ethikberatung heute unverzichtbar ist und wie sie im Krankenhausalltag unterstützt.
Interview: Birgit Kofler
Frau Professor Friesenecker, wofür braucht ein Krankenhaus ein Ethikkomitee oder eine Ethikberatung für den klinischen Bereich?
Barbara Friesenecker: Klinische Ethikkomitees und -beratungen unterstützen bei komplexen medizinischen Entscheidungen. Es geht hier um Bereiche, in denen es keine eindeutig „richtigen“ oder „falschen“ Antworten gibt. Ein klassisches Beispiel sind Themen am Lebensende: Wann ist eine Therapie noch sinnvoll? Wann wird sie zur Übertherapie? Solche Fragen können Teams stark belasten. Das Ethikkomitee bietet hier einen geschützten Raum für strukturierte Diskussionen und hilft, zu gut begründeten Entscheidungen zu kommen. Wichtig ist: Ein Ethikkomitee ist keine „Moralpolizei“, sondern bietet durch die Ausarbeitung eines konkreten Handlungsvorschlages eine Entscheidungshilfe für die Teams und „breitere Schultern“ bei kritischer Nachfrage.
Wie verbreitet sind Ethikkomitees in österreichischen Krankenhäusern?
Barbara Friesenecker: Wir haben leider keine zentral erfassten Daten dazu. Aber die Entwicklung, die ich beobachte, ist sehr positiv. Ethikberatung wird zunehmend als wichtiges Qualitätsmerkmal erkannt. Universitätskliniken wie Innsbruck, Graz und Salzburg haben seit vielen Jahren eine sehr aktive klinische Ethikberatung. Erst kürzlich haben das AKH Wien und die MedUni Wien auch ein solches Angebot etabliert. Was mich aber besonders freut: Es sind keineswegs nur die großen Universitätskliniken, die Ethikkomitees oder -beratungsangebote einrichten. Wir sehen das mittlerweile auch in vielen kleineren Häusern. Das zeigt, dass der Bedarf erkannt wird. Ethikberatung ist kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit – und zwar für jedes Krankenhaus. Überall, wo komplexe medizinische Entscheidungen getroffen werden müssen, braucht es ethische Reflexion zur Unterstützung schwieriger medizinischer Entscheidungsfindung.
Welche Themen beschäftigen die Ethikberatung am häufigsten?
Barbara Friesenecker: End-of-Life-Decisions, kurz EOLD, sind meiner Erfahrung nach das Thema Nummer eins in der klinischen Ethikberatung. Hier geht es um die große Frage des „guten Lebens am Ende des Lebens“. Was bedeutet das für die individuelle Patientin, den individuellen Patienten? Wie können wir Über- aber auch Untertherapie vermeiden? Ein weiterer wichtiger Bereich sind Fragen der Patient*innenautonomie und der sogenannten „besten medizinischen Versorgung“ oder bmV. BmV heißt keineswegs, alles zu machen, was technisch möglich ist. Vielmehr geht es darum, für jede Patientin und jeden Patienten individuell die angemessene Therapie zu finden.
Können Sie das am Beispiel der Übertherapie konkretisieren?
Barbara Friesenecker: Studien zeigen Zahlen, die uns nachdenklich machen sollten. Eine retrospektive Studie von Cardona-Morell zeigt, dass fast 40 Prozent aller Patient*innen in ihren letzten sechs Lebensmonaten für sie nicht mehr wirkungsvolle medizinische Behandlungen erhalten. Das betrifft zum Beispiel 42 Prozent der Intensivaufnahmen, 30 Prozent der Herzunterstützungstherapien, und sogar 33 Prozent der Chemotherapien in den letzten sechs Lebenswochen. Wir sprechen in diesem Zusammenhang von „Futility“ – also von Therapien, die zwar technisch machbar sind, aber den betroffenen Patient*innen keinen relevanten Nutzen mehr bringen.
Was sind die Folgen solcher Übertherapie?
Barbara Friesenecker: Sie schadet auf mehreren Ebenen. Zunächst natürlich den Patient*innen selbst, deren Leiden oft nur verlängert und Sterbeprozess hinausgezögert wird – wir sprechen hier von chronisch kritischer Erkrankung. Dann den Angehörigen, die häufig eine Traumatisierung erleben. Und nicht zuletzt dem medizinischen Personal, das in ethische Konflikte gerät. Futility ist der größte Grund für Burnout. Auch volkswirtschaftlich sind diese Entscheidungen daher äußerst relevant. Die höchsten Kosten in der Medizin fallen in den letzten ein bis zwei Lebensjahren an – und das nicht selten für Therapien, die zwar technisch möglich, aber nicht angemessen und wirkungslos sind. Das ist ein sehr bedenklicher Trend und das wird auf Zeit unser Gesundheitssystem ruinieren, wenn wir nicht endlich anfangen gute und menschliche Entscheidungen zu treffen und dadurch Futility zu vermeiden.
Was genau machen Ethikkomitees oder die klinische Ethikberatung in solchen Fällen?
Barbara Friesenecker: Wir arbeiten mit einem strukturierten Ansatz. Auf Basis unserer Erfahrungen in der klinischen Ethikberatung haben wir das sogenannte „Innsbrucker Handwerkszeug“ - primär für die Ethiklehre – definiert, wobei es viele inhaltlich ähnliche Tools für eine strukturierte Fallanalyse gibt. Dabei werden systematisch verschiedene Aspekte analysiert: Wer ist beteiligt? Welche Interessen und Konflikte gibt es? Welche bio-psycho-soziale Dimension hat der Fall? Sehr wichtig ist auch die Frage nach der Kommunikation – oft liegt hier der Schlüssel zum Problem, aber auch zur Lösung. Wir prüfen für so eine Fallanalyse einerseits, welche medizinethischen Prinzipien betroffen sind und wo sie in Konflikt geraten - Die Medizinethiker Tom I. Beauchamp und James F. Childress haben an der Georgetown University vier Grundsatzprinzipien für die ethisch basierte medizinische Entscheidungsfindung entwickelt, die sich in der Medizinethik durchgesetzt haben und gern auch als Georgetown-Mantra’ bezeichnet werden. Es enthält die vier Prinzipien Autonomie, Nicht-Schaden, Fürsorge und Gerechtigkeit. Ein weiteres Tool für eine ethische Fallbesprechung ist das Zwei-Säulen-Modell - mit einer etwas anders gewichteten inhaltlichen Schwerpunktsetzung.
Wie läuft eine Ethikberatung konkret ab?
Barbara Friesenecker: Es gibt verschiedene Formate für eine klinische Ethikberatung: Von der kurzfristigen Beratung bis hin zur großen Fallbesprechung. Da die Mitglieder eines klinischen Ethikkomitees freiwillig und neben ihrer hauptberuflichen Tätigkeit als Ärzt*in, Pflegeperson, Jurist*in, Sozialarbeiter*in Seelsorger*in und andere auf Anruf tätig werden, kann die Erarbeitung eines konkreten Handlungsvorschlages bei komplexen Fragestellungen unter Umständen eine Woche und manchmal auch länger in Anspruch nehmen. Ein klinisches Ethikkomitee ist daher nicht oder nur im Ausnahmefall geeignet für Stellungnahmen bei Notfällen. Wenn man kein klinisches Ethikkomitee bemühen will oder kann, kann auch ein erfahrenes Ärzt*innenteam im Rahmen einer „Klinischen Perspektivenkonferenz“ (KPK) ebenfalls eine Fallbesprechung durchführen, in der neben den rein medizinischen auch ethische Aspekte im Team der involvierten Behandler*innen besprochen werden müssen.. Hier erarbeitet das gesamte Behandlungsteam aus den Einzelindikationen unter Abwägung der Komorbiditäten, unter Einbeziehung der von uns vorgeschlagenen Scores zur Risikoabwägung (ADL-Score, Dalhousie Frailty Scale, POS-POM Score und SOFA-Score) und unter Beachtung des aktuellen Patient*innenwillens eine sogenannte „gesamtmedizinische Indikation.. Es geht um die Frage: Was ist das beste Vorgehen für diese konkrete Patientin, diesen konkreten Patienten in der individuellen Situation. Dabei wird bei Hochrisikopatient*innen sorgfältig abgewogen, ob eine technisch machbare Intervention überhaupt durchgeführt werden soll und falls ja, was man im Falle von Komplikationen macht oder nicht mehr macht. Dazu muss vor der geplanten Intervention eine differenzierte DNR/DNE-Order besprochen und schriftlich dokumentiert werden. Nach der Besprechung im Team der Behandler*innen müssen die Ergebnisse dieser Besprechung betroffenen Patient*innen und – so von diesen gewünscht – auch den Angehörigen ausführlich kommuniziert werden, um zu einem „informed consent“ im Rahmen einer sogenannten partizipativen Entscheidungsfindung zu kommen.
Sie sind auch in der Ausbildung tätig. Wie wichtig ist ethische Kompetenz für angehende Mediziner*innen?
Barbara Friesenecker: Absolut zentral. An der Medizinischen Universität Innsbruck haben wir seit 2019 schrittweise eine verpflichtende Ethiklehre in allen drei Studienabschnitten des Medizinstudiums eingeführt. Das Gesamtkonzept der verpflichtenden Ethiklehre an der MUI ist in den „Atlas der guten Lehre“ des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Forschung aufgenommen, die Innsbrucker Pädiater*innen haben für ihre interdisziplinäre Ethiklehre – gemeinsam mit den Philosoph*innen - 2020 den Preis Ars docendi gewonnen. Nur weil jemand Medizin studiert hat, kann er oder sie nicht automatisch ethisch reflektierte Entscheidungen treffen. Das muss genauso gelehrt, gelernt und dann trainiert werden wie andere praktische medizinische Fähigkeiten zum Beispiel im Rahmen von verpflichtenden Reaminationstrainings, und gehört daher unbedingt in die medizinischen Pflicht-Curricula aller medizinischen Universitäten Österreichs aufgenommen. Wir arbeiten in der Lehre vom ersten Semester an sehr klinisch-fallorientiert und in den meisten der insgesamt 53 Unterrichtseinheiten auch interdisziplinär, mit Expert*innen der unterschiedlichen klinischen Fachrichtungen, der Grundlagenforschung und der Philosophie.
Was braucht es, damit Ethikberatung in einem Haus gut funktionieren kann?
Barbara Friesenecker: Zunächst die Unterstützung der Krankenhausleitung. Ethikberatung und regelmäßige Fortbildung in ethisch basierter Entscheidungsfindung muss als Teil der Organisationskultur eines Hauses verstanden werden, das ist die sognannte organisationsethische Verantwortung. Ein Haus sollte Patient*innen bereits bei der Aufnahme nach Patient*innenverfügung und Vorsorgevollmacht fragen und diese dann im offiziellen Dokumentationssystem führen. Die Etablierung eines klinischen Ethikkomitees sollte unterstützt, die entsprechende Arbeitszeit dafür gewährt werden. Ein Ethikkomitee sollte interdisziplinär und multiprofessionell besetzt sein. Wichtig ist die schriftliche Dokumentation der Behandlungsvorschläge die im Rahmen eines Konsils erarbeitet werden.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft der klinischen Ethikberatung?
Barbara Friesenecker: Drei Dinge sind mir besonders wichtig: Erstens die flächendeckende Etablierung von Ethikberatung als selbstverständlicher Teil der Krankenhaus-Infrastruktur. Zweitens mehr verpflichtende Aus- und Fortbildung in medizinischer Ethik, sowohl für Studierende als auch postpromotionell – etwa durch verpflichtende DFP-Punkte für ethikrelevante Themen. Und drittens die Anerkennung von Gesprächszeit als eigene Leistung in den Vergütungskatalogen. Denn eines ist klar: Reden kostet zwar Zeit, spart aber letztlich viel Geld – und, noch wichtiger, auch - Leid. Die Medizin braucht neben der technischen Machbarkeit auch wieder mehr Menschlichkeit.
Foto: MedUnilbk/C.Simon
Zur Person
Ao. Univ.-Prof.in Dr. in med. Barbara Friesenecker ist Fachärztin für Anästhesie und Intensivmedizin mit einer Zusatzausbildung für Palliativmedizin. Seit 2001 ist sie Oberärztin an der Allgemeinen und Chirurgischen Intensivstation der Universitätsklinik für Anästhesie und Intensivmedizin, Medizinische Universität Innsbruck. 2007 habilitierte sie sich für das Fach Anästhesiologie und Intensivmedizin. Barbara Friesenecker befasst sich intensiv mit den ethischen Aspekten intensivmedizinischer Versorgung und ist in der klinischen Ethikberatung aktiv. Sie ist Vorsitzende der Arbeitsgruppe für Ethik in Anästhesie und Intensivmedizin der Österreichischen Gesellschaft für Anästhesiologie, Reanimation und Intensivmedizin, war viele Jahre in mehreren medizinischen Fachgesellschaften engagiert und in verschiedenen Planungsgremien tätig.