Immer für Ärztinnen und Ärzte in Wien
zurück zur Übersicht

Beschimpft, beleidigt und bedroht

Gesundheitsberufe
Versorgung

Patient*innen reagieren auf Ärzt*innen und Pflegende immer häufiger mit Aggression und Gewalt. INGO hat nachgefragt, wie Vermeidungs- und Deeskalationsstrategien aussehen.

Text: Karin Lehner

Beflegelungen bei Behandlungen, verbale Drohungen bei Wartezeiten, statt eines Dankeschöns oft sogar Schläge, Tritte oder Spuckattacken. Ärzt*innen und Pflegende in Spitälern und Pflegeeinrichtungen erleben im Berufsalltag immer mehr psychische wie physische Gewalt vonseiten forsch auftretender und wenig Respekt zollender Patient*innen. Auch in sozialen Medien wird, unter dem Deckmantel der Anonymität, fleißig gegen das Medizinpersonal ausgeteilt.

Diese Erfahrung musste auch Dr.in Naghme Kamaleyan-Schmied machen, praktische Ärztin und Vizepräsidentin der Kammer für Ärztinnen und Ärzte in Wien. „In drei E-Mails erhielt ich Morddrohungen, weil ich gegen SARS-COv-2 geimpft habe.“ Aufgrund der unverhohlenen Drohung konnte sie tagelang nicht schlafen, nach weiteren Verunglimpfungen in digitalen Netzwerken kündigten sogar Mitarbeiter*innen.

Dass Gewalt gegen Gesundheitspersonal weit verbreitet ist, zeigen die Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage von Meinungsforscher Peter Hajek unter 1.102 Ärzt*innen. 55 Prozent waren im Beruf in den vergangenen zwei Jahren verbaler Gewalt ausgesetzt. Ein Viertel erlebte psychische, 16 Prozent sogar körperliche Gewalt. 37 Prozent der Befragten berichten von regelmäßigen Gewalterfahrungen, vor allem Ärzt*innen aus Spitälern (60 Prozent). Aber auch in Ordinationen (30 Prozent) kommt es immer wieder zu Vorfällen. Bei einem Drittel der Befragten haben Aggression und Gewalt am Arbeitsplatz inzwischen negative Auswirkungen auf das Privatleben.

Die Hauptursachen für die Attacken von Patient*innen auf Ärzt*innen sind mit 78 Prozent lange Wartezeiten, überlaufene Praxen und Spitäler sowie der Personalmangel. Eine deutliche Mehrheit der Befragten, nämlich 68 Prozent, wünscht sich, dass zusätzliche Maßnahmen gegen Gewalt in Gesundheitseinrichtungen ergriffen werden.

Theresa Stampler (c) HJK

Wir dürfen nicht vergessen, dass sich Menschen im Krankenhaus in der Regel in einer Ausnahmesituation befinden.

Mag.a Theresa Stampler, BA

Wertevorständin, Herz-Jesu Krankenhaus

In Hinblick auf Behandelnde wie Mitpatient*innen sind solche Vorfälle nicht zu tolerieren, herrscht Einigkeit unter den Verantwortlichen. Verschiedene Stellen bieten Hilfe für medizinisches Personal an. Die Kammer für Ärzt*innen und Ärzte in Wien hat eine eigene Ombudsstelle für Mobbing, Gewalt, Sexismus und Rassismus eingerichtet, an die sich Mitglieder wenden können. Sie bietet auch Deeskalationsseminare und juristische Unterstützung an. Auch bei der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK) existiert eine Beratungs- und Meldestelle für Kassen-Ärzt*innen im Falle von Patient*innen-Gewalt. Bei #GegenHassimNetz können Hasspostings und Cyber-Mobbing gemeldet werden.

Zivilcourage gefragt

„Gewalt und Aggression sind keine neuen gesellschaftlichen Phänomene, im Unterschied zu früher begegnen wir ihnen heute aber mit hoher Sensibilität“, weiß Mag.a Theresa Stampler, BA, Wertevorständin im Herz-Jesu Krankenhaus. Um die Mitarbeiter*innen umfassend zu unterstützen, existiert im Herz-Jesu Krankenhaus Wien – wie in allen Spitälern der Vinzenz Gruppe – eine Arbeitsgruppe gewaltfreies Krankenhaus. Hier geht es um Fragen, wie Grenzüberschreitungen und Gewalt verhindert werden können, und um den Umgang mit Aggression.

Die Werteexpertin registriert eine steigende Ungeduld bei Patient*innen, vermehrte Reizbarkeit und eine niedrigere Schwelle für Angriffe auf das Gesundheitspersonal. „Ein Problem sind auch Verbalentgleisungen sowie Alltagsrassismus gegenüber den Mitarbeiter*innen mit Migrationshintergrund“, so Stampler. „Auch hier schreiten wir natürlich umgehend ein.“

Um Gewalt- und Aggressionsereignisse anzuzeigen, hat das Herz-Jesu Krankenhaus verschiedene Maßnahmen etabliert. Ein wichtiges Tool ist das digitale Meldeportal – hier werden Beleidigungen, anzügliche Bemerkungen, Demütigungen oder physische Angriffe dokumentiert und später analysiert. Direkte persönlicheUnterstützung erhalten Mitarbeiter*innen durch interne Angebote der Seelsorge, Psychotherapie sowie den Austausch über die „Wir für Dich“-Gruppe mit Kolleg*innen. Daneben gibt es externe Coachings, Deeskalationsschulungen oder Besuche der Grätzel-Polizei. Das Ziel ist es, Aggressionsereignisse bestmöglich zu vermeiden. „Wir wollen eine Kultur der Gewaltfreiheit etablieren – dafür sind alle Mitarbeiter*innen im Krankenhaus wichtig, auch sogenannte By-Standers“ erklärt Theresa Stampler. Das sind Person, die sich als Zeug*in eines Vorfalls angesprochen fühlen und Zivil-Courage zeigen.

Blickwechsel nötig

Die Werte-Expertin plädiert für einen differenzierten Blick und zeigt Verständnis für die Sorgen und Nöte von Patient*innen. „Wir dürfen nicht vergessen, dass sich Menschen im Krankenhaus in der Regel in einer Ausnahmesituation befinden“, plädiert Stampler für Empathie und Toleranz. „Ängste, Schmerzen und Traumata können Grenzüberschreitungen auslösen.“

Ein offenes Ohr für die Probleme von Patient*innen sei eine effektive Präventionsmaßnahme. „Jeder Mensch will wahrgenommen werden, vor allem in Grenzsituationen wie einem Spital,“ so Theresa Stampler. Die Mitarbeiter*innen des Herz Jesu Krankenhaus Wien gehen verstärkt auf individuelle Bedürfnisse von Patient*innen ein. Doch Zuwendung benötigt Zeit. In einer diversen Gesellschaft sei die Herstellung von Konsens in punkto Pflege und Behandlung viel Arbeit. „Wir erleben einen Paradigmenwechsel in kurzer Zeit“, analysiert Stampler „Je individueller die Gesellschaft wird, desto mehr müssen wir auf die Bedürfnisse einzelner Menschen eingehen.“

 Fotos: Titelbild © Ärztekammer für Wien/Stefan Seelig; Expertinnenbild © Herz Jesu Krankenhaus

Ähnliche Beiträge zu diesem Thema