Rudolf Silvan ©  Parlamentsdirektion/Thomas Topf
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„Endlich die Datenlage verbessern“

Personen & Porträts
Gesundheitspolitik

SPÖ-Gesundheitssprecher Rudolf Silvan skizziert im INGO-Gespräch, wie Prävention, Telemedizin und regionale Planung zusammenspielen sollen – von einer besseren Datenlage über den PVZ-Ausbau bis zur Einbindung der Wahlärzt*innen.

Interview: Birgit Kofler

Wir wissen, dass das gesundheitspolitische Regierungsprogramm ein Kompromiss zwischen drei Parteien ist. Wie hätte es ausgesehen, hypothetisch, wenn es die SPÖ allein gestaltet hätte?

Rudolf Silvan: Wir hätten mit Sicherheit die Sozialversicherung nochmals konsequent reformiert. In der Selbstverwaltung sollte die Arbeitnehmer*innenseite wieder das Gewicht haben, das ihr zusteht. Zudem hätten wir die Landesstellen der ÖGK gestärkt, denn Gesundheitspolitik ist primär Länderkompetenz. Die derzeitige Zentralisierung der ÖGK bei gleichzeitig unveränderten, dezentralen Ärztekammerstrukturen passt nicht zusammen. Wir hätten wohl auch die Versorgung im ländlichen Raum stärker in den Fokus gerückt. Und schließlich hätten wir Wahlärzt*innen mehr in die Verantwortung genommen – mit verpflichtenden Öffnungszeiten und ELGA-Anschluss. Wenn man wirklich systemrelevant sein will, gehört das dazu.

Sie sind niederösterreichischer Abgeordneter und haben damit einen besonderen Blick auf die Gastpatient*innen-Diskussion. Können Sie den Wiener Argumenten etwas abgewinnen?

Rudolf Silvan: Ja, das kann ich. Wien bekommt zwar Geld aus dem Finanzausgleich für diese Mitversorgung, aber der Zustrom wird damit nicht ausreichend abgegolten. Andererseits muss man ehrlich sagen: Die Qualität der niederösterreichischen Landeskliniken lässt zu wünschen übrig, auch das treibt Patient*innen in die Hauptstadt. Die Landflucht der vergangenen 15 Jahre war enorm. Regionen verlieren Bevölkerung, die Fallzahlen in den Spitälern sinken. Manche Eingriffe werden vor diesem Hintergrund heikel. Zudem ist es für medizinisches Personal wenig attraktiv, dorthin zu gehen. Diese Entwicklung ist ein Riesenproblem für die Gesundheitsversorgung.

Aber wie löst man das Problem?

Rudolf Silvan: Durch Kooperation in der Ostregion. Die Antwort kann nur grenzüberschreitende Planung sein. Wien, Niederösterreich, Burgenland sind ja durchaus gesprächsbereit. Es ist nicht zu rechtfertigen, dass in Kittsee und Hainburg, nur etwa 15 Kilometer voneinander entfernt, zwei Spitäler existieren, nur weil es unterschiedliche Bundesländer sind. An der Südbahnlinie haben wir vier Spitäler – zwei große, gut ausgestattete hätten wohl ausgereicht. Ich orte aber definitiv Bewegung und guten Willen in Richtung bundesländerübergreifende Planung.

Muss man bei der Planung nicht überhaupt österreichweit denken – etwa für seltene Erkrankungen?

Rudolf Silvan: Absolut. Gerade seltene Erkrankungen brauchen Schwerpunktspitäler - teils nur ein Zentrum österreichweit. Gleichzeitig dürfen wir den ländlichen Raum nicht aufgeben. Es wohnen dort viele ältere Menschen ohne Auto, und öffentlicher Verkehr ist oft katastrophal. Ich habe einmal versucht, von Baden zu einem Termin um 9 Uhr nach Zwettl zu kommen – realistisch wäre nur die Anreise am Vortag gewesen. Das zeigt, wie sehr auch Erreichbarkeit die Gesundheitsversorgung prägt. Deshalb brauchen wir besonders für das Land neben den Primärversorgungszentren auch Zentren, in denen mehrere Fachrichtungen zusammenarbeiten, nicht nur Allgemeinmediziner. Wenn wir das mehr öffnen, sind wir auf einem guten Weg.

Rudolf Silvan © Parlamentsdirektion/Thomas Topf

Unsere Versorgungslandschaft soll gemeinnützig organisiert bleiben. Dafür müssen wir das solidarische Gesundheitssystem stärken.

Rudolf Silvan

Abgeordneter zum Nationalrat, SPÖ-Gesundheitssprecher

Die Sozialversicherung ist bei Fachärzt*innenzentren skeptisch, weil sie Überweisungsketten fürchtet.

Rudolf Silvan: Das verstehe ich. Es gibt ja auch – anderes Beispiel – diese Erfahrung, dass Ärzt*innen mit Hausapotheken tendenziell mehr verschreiben. Aber in manchen Regionen mit schlechter Verkehrsanbindung sind Hausapotheken für Patient*innen hilfreich. Da sieht man, wie differenziert man das alles sehen muss in der Gesundheitspolitik. Sie ist wirklich sehr komplex, mit den zersplitterten Kompetenzen, mit den vielen Interessensgruppen der Berufe, mit Bundesländern, Sozialversicherungen, Städten als Krankenhausträger.

Welche gesundheitspolitischen Vorhaben stehen für die nächste Zeit auf dem Programm der Koalition?

Rudolf Silvan: Das ist eine lange Liste. Beginnend bei einer neuen Kooperation zwischen Ärztekammer und Apothekerkammer, damit das Impfen in Apotheken möglich wird. Die Ärzte sind wenig begeistert, aber wir müssen die Durchimpfungsrate erhöhen und diese Möglichkeit niederschwellig zugänglich machen. Dann stehen auch das Sanitätergesetz, das Tabak- und Nichtraucherschutzgesetz, der WHO-Pandemievertrag und das Pharma- und Arzneimittelpaket an. Auch Maßnahmen gegen die Privatisierung im Gesundheitsbereich stehen auf dem Programm. Ganz wichtig sind zudem der Ministerin die Präventionsstrategie und die Gesundheitsförderung, der Staatssekretärin die Digitalisierung, Telemedizin und der Ausbau von 1450. Also die Patient*innenbegleitung durch das Gesundheitssystem, die uns sehr beschäftigt.

Das ist ein sportliches Programm. Bleiben wir bei der Prävention, deren Stärkung wird schon lange gefordert. Wie soll jetzt diese Präventionsoffensive aussehen?

Rudolf Silvan: Das größte Thema ist, endlich bei einer Verbesserung der Datenlage anzusetzen. Heute wissen wir in Österreich manche Basics nicht verlässlich: Zum Beispiel, wie viele Diabetiker*innen haben wir? Es heißt zwar, wir hätten die meisten Amputationen bei Diabetiker*innen in Europa, aber niemand kann sagen, wie viele Diabetiker*innen wir tatsächlich haben. Die Daten liegen in Silos: Spitalsdaten bei den Ländern, niedergelassene Versorgung bei der Sozialversicherung. Beides ist kaum verknüpft und wird zurückhaltend geteilt. Wir brauchen anonymisierte, pseudonymisierte Daten, klaren Rechtsrahmen – und dann evidenzbasierte Schwerpunkte bei der Prävention und Früherkennung. Ohne solide Daten bleibt Prävention ein Schuss ins Blaue. Selbst bei Impfungen wissen wir die Durchimpfungsrate nicht genau. Ein elektronischer Impfpass ohne Opt-out-Möglichkeit würde hier wichtige gute Daten liefern.

Sie haben die Privatisierung angesprochen. Was könnte da auf uns zukommen?

Rudolf Silvan: Supermarkt- oder Finanzkonzerne als Praxisinhaber wie in der Schweiz oder Deutschland – das will in Österreich niemand in der Koalition. Unsere Versorgungslandschaft soll gemeinnützig organisiert bleiben. Dafür müssen wir das solidarische Gesundheitssystem stärken. Dafür sind bereits Schritte gesetzt: Zunächst wurden die Krankenversicherungsbeiträge für Pensionist*innen angehoben – eine schwere Entscheidung. Doch das bringt frisches Geld für die ÖGK. Auch der Hebesatz steigt, der staatliche Beitrag zur Krankenversicherung der Pensionist*innen. Diese Mittel sollen in den Gesundheitsreformfonds fließen. Zudem bemühen wir uns um einen österreichweiten Vertrag mit der Ärztekammer. Aktuell gibt es zwischen den Bundesländern völlig unterschiedliche Honorare für dieselbe Leistung. Parallel müssen wir Wahlärzt*innen wirklich in das System einbinden: ELGA-Pflicht, Öffnungszeiten, und wenn jemand keinen Kassen-Termin bekommt, soll zu Kassenkonditionen der Weg zum Wahlarzt offenstehen. Das alles nimmt Druck und stärkt das solidarische Versorgungssystem. Es wird ein Paket geben, das in diese Richtung geht, Details sind aber noch zu verhandeln.

© Parlamentsdirektion/Thomas Topf
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Stichwort Fachkräftemangel: Einzelne Bundesländer oder sogar Träger rekrutieren Pflegekräfte in Drittstaaten – Indien, Marokko, Südamerika. Ist das vernünftig?

Rudolf Silvan: Ich halte das nicht für vernünftig. Das kann lindern, löst aber das Grundproblem nicht. Ich war zehn Jahre Vorsitzender der AUVA und mitverantwortlich für zwei Unfallspitäler. Zwar ist für die Fachkräfte in der Pflege das Gehalt ein wesentlicher Faktor – das eigentliche Thema ist laut den Kolleg*innen aber die Unberechenbarkeit der Dienste: ständiges Einspringen, kaum planbare Freizeit. Viele geben in Bewerbungsgesprächen bewusst keine Handynummer an – nicht, weil sie nicht helfen wollen, sondern weil sie sich schützen müssen. Wir brauchen verlässlichere Dienstpläne und mehr Personalpuffer. Das ist das große Thema – nicht so sehr das Einkommen.

Wie löst man das? Frisches Geld hilft da ja nicht.

Rudolf Silvan: Man hat diese Berufe in den letzten Jahren schlechtgeredet, obwohl es eigentlich viele Interessent*innen gibt. Das schreckt ab. Zudem muss die häusliche Pflege forciert werden – aus drei Gründen: Das wollen die Menschen, es ist kostengünstiger, und viele Beschäftigte machen diese Arbeit lieber. Eine Voraussetzung ist aber barrierefreies Wohnen. In Niederösterreich sind über 90 Prozent der Einfamilienhäuser nicht barrierefrei – da scheitert Pflege daheim an Stufen. Aber das wäre ein wichtiger Hebel.

Sie haben sich wiederholt für das Konzept „alles aus einer Hand“ ausgesprochen. Was heißt das konkret?

Rudolf Silvan: Die AUVA zeigt, wie es geht: Prävention, Behandlung, Rentenleistung aus einem Topf. Wer Prävention vernachlässigt, zahlt später selbst drauf – deshalb investiert die AUVA in dem Bereich. Bei den Krankenversicherungen ist das nicht so. Wenn die in der Prävention versagen, bezahlt es die Pensionsversicherung. Das ist ein Strukturproblem. Ein Patient mit Morbus Bechterew bekommt von der Pensionsversicherung zweimal in fünf Jahren einen Aufenthalt im Gasteiner Heilstollen – das hilft enorm, aber öfter wird nicht genehmigt. Wenn es dazwischen wieder schlimmer wird, braucht der Betroffene Injektionen zu je 3.000 Euro. Die zahlt die ÖGK, also ist es der Pensionsversicherung egal. Alles aus einer Hand wäre die Lösung.

Kommen wir noch zur Patient*innenlenkung. Viele Menschen steigen auf der falschen Versorgungsstufe ein. Reicht da wirklich 1450?

Rudolf Silvan: Ich bin selbst jahrelang bei jedem Freizeitunfall automatisch ins Spital gegangen. Von zwölf bis 14 Malen hätte mich zehn Mal der Hausarzt versorgen können. Dieses Denken, ins Spital zu gehen, ist in Österreich stark verankert. Was 1450 als Lenkungsinstrument betrifft: Die Telemedizin muss generell ausgebaut werden – das auch steht im Regierungsprogramm. Es wird dauern, bis das angenommen wird, viele werden skeptisch sein. Aber gerade im ländlichen Bereich ist das hilfreich: Man muss nicht kilometerweit fahren, zwei Stunden warten, nur um zu hören, dass Käsepappeltee genügt.

Zur Person

Rudolf Silvan ist seit 2019 Abgeordneter zum Nationalrat der SPÖ und Landesgeschäftsführer der Gewerkschaft Bau-Holz Niederösterreich. Seit März 2025 ist er stellvertretender Klubobmann der SPÖ im Parlament und Gesundheitssprecher des sozialdemokratischen Parlamentsklubs. Er ist Mitglied in den Ausschüssen für Gesundheit, Petitionen und Bürgerinitiativen sowie Volksanwaltschaft und Menschenrechte.

Der gelernte Bäcker war von 2006 bis 2008 Mitglied im Reha Ausschuss der Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt (AUVA), 2008 bis 2019 war Silvan Vorsitzender der AUVA Wien, Niederösterreich und Burgenland. Silvan war an der Gründung des AUVA Traumazentrums Wien maßgeblich mitbeteiligt. 2019 wechselte Silvan in den neu gegründeten Verwaltungsrat der AUVA. Zudem war der Gewerkschafter von 2016 bis 2019 Vorstandsmitglied der Niederösterreichischen Gebietskrankenkasse (NÖ GKK).

Fotos: © Parlamentsdirektion/Thomas Topf

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