Obmann Andreas Huss (c) ÖGK
zurück zur Übersicht

„Bei der öffentlichen Finanzierung nachjustieren“

Gesundheitspolitik
Personen & Porträts

ÖGK-Obmann Andreas Huss fordert zwei Milliarden Euro zusätzlich für den Ausbau der Gesundheitsversorgung, insbesondere der Zentrumsmedizin und will die spitalsambulante Finanzierung umstellen.

Interview: Birgit Kofler

Die demographische Entwicklung gehört wohl zu den größten Herausforderungen, vor denen unser Gesundheitssystem steht. Was sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten Maßnahmen?

Andreas Huss: Unsere diesbezüglichen Vorhaben finden sich in den regionalen Strukturplänen Gesundheit, die wir aktuell mit den Bundesländern verhandeln, um die Gesundheitsversorgung bis 2030 zu gestalten. Als ÖGK haben wir stark den Ausbau der niedergelassenen Versorgung in diesen Prozess eingebracht. Konkret wollen wir 300 Primärversorgungszentren bis 2030 in ganz Österreich, also eine Verdreifachung gegenüber dem Status quo. Hier geht es auch darum, die nichtärztlichen Gesundheitsberufe verstärkt einzubinden. Im internationalen Vergleich ist unser Gesundheitssystem nach wie vor viel zu ärztelastig. An manchen Orten werden auch nach wie vor Einzelordinationen nachbesetzt werden können, aber den großen Run der Jungmedizinerinnen und -mediziner auf diese Organisationsform gibt es nicht mehr. Das hat vor allem mit der großen Nachfrage nach Teilzeitarbeit zu tun. Deshalb gehen wir stark in die Förderung von anderen Zusammenarbeitsformen und von Zentrumslösungen. Dazu gehören neben den Primärversorgungseinheiten auch Frauengesundheitszentren in Form selbstständiger Ambulatorien mit interprofessionellem Angebot. Frauenärztinnen sind im Kassensystem nach wie vor Mangelware, die Frauenquote liegt nur bei 37 Prozent. Wir wollen die Gynäkologinnen im Wahlarztsystem dazu motivieren, im Kassensystem mitzuarbeiten – auch mit Teilzeitmöglichkeiten. Zudem wollen wir die psychosoziale Versorgung verbessern. Denn die ist in Österreich ein extremes Flickwerk, nicht alle Bundesländer sind gleich gut versorgt. Wir möchten in jeder der 32 Versorgungsregionen ein psychosoziales Versorgungszentrum für Kinder und Jugendliche und eines für Erwachsene anbieten. Und dann gibt es noch einen anderen wichtigen Bereich: Die Österreicherinnen und Österreicher mit Diabetes sind im Vergleich zu anderen Ländern nicht optimal versorgt. Hier wollen wir österreichweit in allen 32 Versorgungsregionen jeweils ein Diabeteszentrum anbieten.

Das alles kostet eine Menge Geld. Woher sollen die zusätzlichen Mittel kommen?

Andreas Huss: Zum einen aus dem System selbst. Wir entlasten zunehmend die Spitäler, in den vergangenen zehn Jahren ist die Zahl der stationären Patienten um bis zu 30 Prozent zurückgegangen. Auch die Zahl der spitalsambulanten Patientinnen und Patienten stagniert, sie steigt aber in den Kassenpraxen, zwischen zehn und 18 Prozent allein im letzten Jahr. Wenn aber immer weniger Menschen in die Spitäler kommen, muss man sich in der Spitalsfinanzierung etwas überlegen. Wir zahlen derzeit rund 7 Milliarden Euro in die Krankenhäuser. Unser Vorschlag ist, diesen Beitrag zu reduzieren und die spitalsambulanten Leistungen nicht mehr pauschal über die Spitalsfinanzierung abzugelten, sondern als Sozialversicherung Einzelleistungen einzukaufen, so wie im niedergelassenen Bereich. So könnten wir mit steuern, wo welche Leistungen am besten erbracht werden sollen.

Das wird aber alleine nicht reichen, um die zusätzlichen Mittel aufzubringen.

Andreas Huss: Man muss die gesamte Finanzierung des österreichischen Gesundheitssystems ansehen. Oberflächlich betrachtet sieht es so aus, als ob es im internationalen Vergleich besonders teuer wäre. Wenn man aber zwischen öffentlichen und privaten Gesundheitsausgaben unterscheidet, sieht man: 24 Prozent der gesamten Gesundheitsausgaben sind in Österreich Privatzahlungen, 12 Milliarden Euro bezahlen die Menschen in Österreich also aus der eigenen Tasche, zusätzlich zu Steuern und Beiträgen. Das sind pro Person 1.200 Euro im Jahr. Mit einem solidarischen Gesundheitssystem hat das nichts mehr zu tun. Zieht man diese privaten Zuzahlungen ab, dann liegt die öffentliche Gesundheitsfinanzierung in Österreich nur mehr im internationalen Mittelfeld. Das ist eigentlich in einem sehr reichen Land wie Österreich ein Skandal. In Deutschland machen die privaten Zuzahlungen nur 13 Prozent aus, dort liegt aber der Krankenversicherungsbeitrag bei mittlerweile 16 Prozent – bei uns sind es seit Jahrzehnten 7,65 Prozent. Wenn man die dortige hundertprozentige Spitalsfinanzierung aus Beiträgen gegenrechnet, bräuchten wir einen KV-Beitrag von 9,5 Prozent. Wir werden nicht umhinkommen, in der öffentlichen Finanzierung nachzujustieren. Das können höhere Sozialversicherungsbeiträge sein, das können auch mehr Steuermittel sein. Um die beschriebenen Maßnahmen in den regionalen Strukturplänen und den österreichweit einheitlichen Ärztegesamtvertrag zu finanzieren, brauchen wir um die zwei Milliarden Euro mehr.

Wo ist Ihre Präferenz – höhere Beiträge oder mehr Steuermittel?

Andreas Huss: In Österreich haben wir ein Mischsystem, 43 Prozent kommen aus Beiträgen der Versicherten und 33 Prozent aus Steuermitteln, der Rest wie gesagt aus der privaten Tasche der Menschen. Wenn wir die duale Finanzierung aufrechterhalten wollen, ist es aus meiner Sicht sinnvoll, mehr Geld aus Steuermitteln ins System zu bekommen. Aber schlussendlich ist es eine politische Entscheidung, ich kann auch mit einer Beitragserhöhung leben. Damit könnten wir dann auch die privaten Zahlungen, die unser System so unsolidarisch machen, deutlich reduzieren.

Wie kann die viel diskutierte Patient*innenlenkung gelingen, wenn man auf verbindliche Maßnahmen wie ein Gatekeeper-System verzichtet?

Andreas Huss: Es gibt Ideen zu stark eingreifenden Regulierungssystemen, die über Strafzahlungen, Selbstbehalte oder ein Sperren der E-Card funktionieren würden. Solche Wege wollen wir vorerst in Österreich nicht gehen. Wir haben uns dafür entschieden, die Patientenerfahrung im positiven Sinne zu steuern. Wenn Menschen künftig über die Hotline 1450 ins Gesundheitssystem einsteigen und über diese Anlaufstelle zum „Best Point of Service“ geschleust werden, dann haben sie die Sicherheit, schnellstmöglich und bestmöglich versorgt zu werden. Wenn sie versuchen, sich das selbst zu organisieren, wird das nicht der Fall sein. Das gilt natürlich vor allem für Menschen ohne Hausarzt. Diejenigen, die in guter hausärztlicher Betreuung sind, wissen ja, dass sie dort ohnehin gut aufgehoben sind.

Andreas Huss (c) Enzo Holey

Wenn aber immer weniger Menschen in die Spitäler kommen, muss man sich in der Spitalsfinanzierung etwas überlegen.

Andreas Huss, MBA

Obmann der Österreichischen Gesundheitskasse

Neben dem Anreiz, dass es dann schneller geht, braucht es wahrscheinlich eine Bewusstseinsbildung, dass nicht die höchste Versorgungsstufe automatisch die individuell immer beste ist.

Andreas Huss: Es gibt hier neue Modelle, die wir bereits testen, die Erstversorgungsambulanzen. Wir wissen, dass rund 70 Prozent der spitalsambulanten Patientinnen und Patienten nicht in die Notfallambulanz gehören. Die Erstversorgungsambulanzen sind für diese Menschen die Anlaufstelle. Sie sind zwar räumlich bei den Spitalambulanzen angesiedelt, arbeiten aber nach den Grundsätzen der allgemeinmedizinischen Versorgung. An den Standorten, an denen wir das schon ausprobiert haben, funktioniert es hervorragend. Rund 95 Prozent der Probleme können tatsächlich dort erledigt werden. Aber es geht uns natürlich nicht nur darum, Patientinnen und Patienten aus dem Spital „herauszuhalten“. In versorgungsschwachen Regionen suchen wir gezielt Kooperationen mit den Krankenhäusern. Nehmen wir das Beispiel Murau:  Dort können wir schon längere Zeit die Kassenstellen für Pädiatrie und Gynäkologie nicht mehr nachbesetzen. Also nutzen wir die vorhandene Spitalsinfrastruktur, um die fehlenden Leistungen einzukaufen. Und genauso kann das in versorgungsschwachen Regionen mit diagnostischen Großgeräten funktionieren, indem wir zum Beispiel Bildgebung in Spitälern zukaufen. Es geht also auch darum, Spitalskapazitäten gezielt da, wo es sinnvoll und notwendig ist, für die ambulante Versorgung mit zu nutzen.

Was macht die ÖGK, um telemedizinische Angebote zu stärken?

Andreas Huss: Wir haben eine telemedizinische Praxis ausgeschrieben, die in Zukunft 24 Stunden, an sieben Tagen der Woche, verfügbar sein soll. Angesteuert werden soll sie über die Hotline 1450. Allerdings verzögert sich das jetzt, weil das Bundesverwaltungsgericht die Ausschreibung aus formalen Gründen für nichtig erklärt hat. Wir werden eine Neuausschreibung starten. Wir wissen aus der Stadt Wien, wo 1450 mit angebundener Telemedizin schon gut funktioniert, dass das ein absolutes Erfolgsmodell ist und auch die niedergelassene Arztversorgung extrem entlastet. Deshalb wollen wir das österreichweit ausrollen.

Gesundheitsdienstleister beklagen oft die überbordende Bürokratie, mit der sie konfrontiert sind. Können Sie das nachvollziehen?

Andreas Huss: Diese Diagnose ist oft auch berechtigt, und die Lösung ist die Digitalisierung. Wir haben nach wie vor keine funktionierende Patientenakte. Trotz des ELGA-Systems gibt es viele Doppel- und Mehrfachbefundungen. Ob das Laboruntersuchungen sind, ob das CT, MR-Untersuchungen, Röntgenbilder sind – all diese wichtigen Daten sind nicht zentral in ELGA gespeichert. Mit dem kommenden Jahr müssen alle erhobenen Diagnosen im ELGA-System gespeichert sein. Und jeder Gesundheitsdienstleister, ärztlich wie nichtärztlich, muss in Zukunft auf diese Daten zugreifen können, und zwar auf eine einfache und übersichtliche Art und Weise. Damit können wir viel Kosten und viel Verwaltungsaufwand sparen.

Nur drei Prozent der gesamten Gesundheitsausgaben gehen in die Prävention. Wie kann die ÖGK beitragen, das zu verändern?

Andreas Huss: Das Ziel der ÖGK ist es, von unseren derzeit 1,4 Prozent der Gesamtausgaben für Prävention auf fünf Prozent zu kommen. Wir sind in Österreich Präventionsmuffel, und Gesundheitskompetenz ist nicht besonders großgeschrieben. Sie ist auch regional unterschiedlich verteilt: In Westösterreich ist sie relativ gut, Ostösterreich steht deutlich schlechter da. Wir haben schon einige Initiativen gesetzt. Ein positives Beispiel ist etwa unser „easykids Programm“, das wir heuer österreichweit ausgerollt haben. Übergewichtige und adipöse Kinder kommen mit ihren Familien in Programme, wo Lust auf Bewegung und auf gesunde Ernährung gemacht wird, wo man psychologische Unterstützung bekommt. Für diese Investition von rund 5.000 Euro pro Person bekommen wir gesundheitskompetente Kinder und Eltern heraus. Mit unserem Rückenfit Kursangebot helfen wir Menschen ihre Rückenschmerzen in den Griff zu bekommen. Wir planen mit der AGES auch ein großes Projekt zum Thema Ernährung, das sich auch damit beschäftigen und transparent machen soll, wie uns die Nahrungsmittelindustrie mit ihren hochverarbeiteten Lebensmitteln negativ beeinflusst.

In anderen Ländern drängen immer mehr gewinnorientierte, gesundheitsferne Investoren auf den Gesundheitsmarkt. Wie sehen Sie diese Entwicklung?

Andreas Huss: Das Thema Gewinnorientierung muss man differenziert betrachten. Jeder Arzt, jede Ärztin in der Ordination hat auch ein Interesse an Gewinn, um von dieser Arbeit leben zu können. Kritisch sehe ich das dann, wenn es nur um die Profitmehrung für Aktionäre geht. Wenn also zum Beispiel ein Gesundheitsunternehmen – wie das zuletzt bei der VAMED der Fall war – an einen Fonds verkauft wird, der mit Gesundheitsversorgung nichts am Hut hat, sondern Unternehmen akquiriert und nach einigen Jahren mit Gewinn wieder verkaufen möchte. Unsere Gesundheitsversorgung muss vor solchen internationalen Trends der reinen Marktorientierung geschützt werden. Da braucht es klare Strategien – etwa indem man sich darauf verständigt, dass Gesundheitsversorgung im Wesentlichen gemeinnützig funktionieren muss. Wir haben ja die unterschiedlichsten gemeinnützigen Anbieter – die müssen wir stärken und auch die Zusammenarbeit zwischen diesen Einrichtungen.

Zur Person

Andreas Huss, MBA, ist seit 1. Jänner 2020 Obmann (jeweils vom 1. Juli bis 31. Dezember) bzw. Obmann-Stellvertreter (jeweils vom 1. Jänner bis 30. Juni) der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK). Der gebürtige Salzburger ist Absolvent eines MBA-Studiums mit dem Schwerpunkt Health Care Management. Andreas Huss ist zudem gelernter Tischler, war Jugendreferent der Gewerkschaftsjugend in Salzburg und in verschiedenen Funktionen in der Gewerkschaft Bau-Holz (GBH) tätig. Von 2013 bis 2019 war er Obmann der Salzburger Gebietskrankenkasse, Co-Vorsitzender der Gesundheitsplattform und der Zielsteuerungskommission in Salzburg und Vorsitzender des Ausgleichsfonds der Gebietskrankenkassen sowie des Rechnungsprüfungsausschusses des Hauptverbandes der österreichischen Sozialversicherungsträger.

Fotos: Titelbild (c) ÖGK; Porträtbild (c) Enzo Holey

Ähnliche Beiträge zu diesem Thema