Gruppenportrait (c) Wolfgang Voglhuber/Herz-Jesu Krankenhaus
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„Selbstbestimmt statt schmerzbestimmt“

Personen & Porträts
Versorgung

Das Therapiezentrum chronischer Schmerz im Rabenhof setzt neue Maßstäbe. Prim. Dr. Manfred Greher erklärt im INGO-Interview, wie multimodale Behandlung Lebensqualität zurückgibt und warum abgestufte Versorgung entscheidend ist.

Interview: Birgit Kofler

Im Herz-Jesu Krankenhaus wurde kürzlich das Therapiezentrum chronischer Schmerz (TCS) im Rabenhof eröffnet, das Sie leiten. Was ist das Besondere an diesem neuen Angebot?

Manfred Greher: Mit dem TCS im Rabenhof wurde eine spezialisierte, interdisziplinäre Einrichtung geschaffen, die für Menschen mit chronischen Schmerzen eine evidenzbasierte Therapie nach neuesten Erkenntnissen bietet. Es ist eine gemeinsame Initiative der Vinzenz Gruppe, die das Herz-Jesu Krankenhaus betreibt, des Wiener Gesundheitsfonds und der Sozialversicherungsträger, beschlossen wurde es im Rahmen der Wiener Zielsteuerungskommission. Allein in Wien besteht ein geschätzter Behandlungsbedarf von 12.000 bis 14.000 Menschen mit chronischen Schmerzen. Mit dem TCS können wir hier einen wichtigen Beitrag leisten, wir werden bis zu 750 Neuvorstellungen jährlich übernehmen. Das TCS setzt Maßstäbe, indem es allen Menschen – unabhängig vom Einkommen – moderne Behandlungsformen bietet.

An welche Schmerzpatient*innen richtet sich das Zentrum konkret?

Manfred Greher: Das TCS im Rabenhof konzentriert sich auf die ambulante Behandlung erwachsener Menschen mit chronischen Schmerzen unterschiedlichster Ursachen und einer Beschwerdedauer von mindestens drei Monaten. Es geht um Personen, deren Schmerzproblematik so komplex ist, dass sie eine spezialisierte, multimodale Behandlung benötigen. Typischerweise sind das also Patient*innen, bei denen Einzelmaßnahmen wie eine medikamentöse Behandlung nicht ausreichen und die durch die Schmerzen in Alltag, Funktion und Lebensqualität beeinträchtigt sind. Akute, neu aufgetretene Schmerzen gehören nicht zu uns.

Das TCS ist als Einrichtung der Versorgungsstufe II konzipiert. Worin genau besteht die abgestufte Schmerzversorgung und welche Aufgaben haben die verschiedenen Stufen?

Manfred Greher: Das Ziel der abgestuften Schmerzversorgung ist ein vernetztes System. Patient*innen sollen je nach Komplexität ihres Beschwerdebildes auf der für sie individuell optimalen Ebene behandelt werden. Die Primärversorgung bildet die Stufe I – hier behandeln schmerzmedizinisch gut ausgebildete Haus- und Fachärzt*innen kompetent, identifizieren Chronifizierungsrisiken und verweisen bei Bedarf rasch weiter. Die spezialisierte Versorgungsstufe II gewährleistet interdisziplinierte und multimodale, koordinierte ambulante Programme. Und auf der Versorgungsstufe III stehen hochspezialisierte Zentren mit multimodalen Intensivprogrammen oder hochspezialisierte Spitalsleistungen für besonders komplexe Fälle zur Verfügung. Es geht bei diesem Stufenplan um die bestmögliche Versorgung Betroffener, mit Patientenpfaden und Qualitätsstandards, mit zeitgerechter Diagnostik und leitliniengerechter Behandlung am viel zitierten „Best Point of Service" – und das mit gut funktionierenden Übergängen zwischen den Stufen.

Rund 1,5 Millionen Menschen in Österreich leiden unter chronischen Schmerzen. Wie ist es generell um die Versorgung dieser Patient*innen bestellt?

Manfred Greher: Chronische Schmerzen sind ein komplexes bio-psycho-soziales Phänomen, ein eigenständiges Krankheitsbild, und erfordern ein sehr spezifisches therapeutisches Know-how. Die Situation ist durchaus herausfordernd. Studien und Erhebungen haben immer wieder erhebliche Versorgungslücken aufgezeigt. Allerdings ist auch viel in Bewegung. Im Vorjahr ist die Versorgung chronischer Schmerzen in den Österreichischen Strukturplan Gesundheit aufgenommen worden – ein wichtiger Erfolg. Allerdings erfolgt die Umsetzung in den Bundesländern unterschiedlich rasch, nicht alle Regionalen Strukturpläne haben das Thema bereits integriert. Wien baut systematisch eine abgestufte Schmerzversorgung auf und aus. Im Gesundheitszentrum Neubau der ÖGK gibt es ein Angebot der Stufe III, in diesem Jahr sind mit dem AUVA-Schmerzzentrum im UKH Meidling und unserem TCS im Rabenhof zwei Einrichtungen der Stufe II dazugekommen, die 2026 um ein weiteres Zentrum in der Donaustadt ergänzt werden sollen. Die Erfahrungen, die wir mit diesen Versorgungseinrichtungen machen, werden auch in die Planung österreichweiter Angebote einfließen.

Woran liegt es, dass die Versorgung chronischer Schmerzpatient*innen oft unzureichend ist? Welche strukturellen Probleme sehen Sie hier und welche Konsequenzen hat das?

Manfred Greher: Da kommen mehrere Faktoren zusammen. Schmerzerhebung und -beurteilung, Therapieplanung und die Umsetzung einer adäquaten Behandlung sind zeitintensiv, werden aber häufig weder spitalsambulant noch niedergelassen ausreichend vergütet. In Wohnortnähe eine spezialisierte Einrichtung zu finden, bleibt in vielen Regionen leider noch Wunschdenken. Die Folgen unzureichender Behandlung sind aber problematisch, lange diagnostische Odysseen tragen zur Chronifizierung bei. Wenn eine abgestufte und multiprofessionelle Regelversorgung für chronische Schmerzen fehlt, bedeutet das häufig Unter-, Über- und Fehlversorgung mit entsprechenden Folgekosten. Das Risiko angesichts von Budgetproblemen ist, dass bei der Schmerzversorgung gespart wird. Aber Investitionen jetzt vermeiden künftige Schäden, die das Zigfache kosten.

Wie geht man konkret vor, um Patient*in im TCS im Rabenhof zu werden?

Manfred Greher: Für eine Behandlung ist jedenfalls immer ein Termin nötig. Der Zugang ist über eine Zuweisung durch niedergelassene Ärzt*innen oder Spitalsambulanzen möglich, über die Hotline 1450 oder die Website tcs-wien.at. Auch wenn eine Zuweisung vorliegt, müssen wir zunächst die Voraussetzungen prüfen und sicherstellen, dass wir die geeignete Anlaufstelle sind. Wenn das der Fall ist, wird ein Ersttermin vereinbart, bei dem Vorbefunde besprochen und mit einem Fragebogen der Status ermittelt werden, bevor wir einen individuellen Therapieplan maßschneidern.

Manfred Greher (c) APA Fotoservice-Rastegarwebp

Das Ziel der abgestuften Schmerzversorgung ist ein vernetztes System. Patient*innen sollen je nach Komplexität ihres Beschwerdebildes auf der für sie individuell optimalen Ebene behandelt werden.

Prim. Dr. Manfred Greher MBA

Ärztlicher Direktor Herz-Jesu Krankenhaus und Leiter des Therapiezentrums chronischer Schmerz im Rabenhof

Welche Rolle spielt die Zusammenarbeit mit niedergelassenen Ärzt*innen und Spitalsambulanzen?

Manfred Greher: Vernetzung ist zentral, neue und vorhandene Strukturen müssen eng zusammenarbeiten. Das TCS kooperiert eng mit niedergelassenen Ärzt*innen, Primärversorgungszentren und Spezialambulanzen. Es ist uns wichtig, dass behandlungsführende Ärzt*innen auch weiter an Bord bleiben, wenn sie an uns Spezialist*innen weiterverweisen. So stellen wir sicher, dass Patient*innen nicht „verloren gehen“ und nach dem Programm, das sie bei uns absolvieren, auch optimal weiterbetreut werden.

Sie haben von multimodaler, interdisziplinärer Schmerztherapie gesprochen. Können Sie das konkretisieren – wie greifen die einzelnen Therapieformen ineinander und welche Spezialist*innen sind beteiligt?

Manfred Greher: Die Behandler*innenteams aus Ärzt*innen, DGKP, Psycholog*innen, Physio- oder Ergotherapeut*innen arbeiten fächerübergreifend zusammen und erstellen individuelle Therapiepläne. Unser Angebot ist umfassend, da gibt es medizinische Behandlungen, Entspannungsverfahren, Trainingseinheiten zur Schmerzbewältigung, Akupunktur, Biofeedback, Physio- und Ergotherapie, therapeutisches Yoga, psychologische Betreuung, Edukation und Virtual Reality-basierte Therapien. Auch interventionelle Eingriffe wie Infiltrationen sind möglicher Teil der Strategie, stehen aber nicht im Vordergrund. Entscheidend ist die Ziel- und Planabstimmung: Alle Bausteine werden koordiniert kombiniert. Wir behandeln nicht einfach Symptome, sondern betrachten das gesamte bio-psycho-soziale Gefüge.

Wie lange dauert eine Therapie im TCS im Rabenhof üblicherweise, und wie viel aktive Mitarbeit wird von den Patient*innen erwartet?

Manfred Greher: Die Dauer ist individuell und hängt von Komplexität und Therapiezielen ab. Üblicherweise erstreckt sich der Plan über mehrere Wochen. Multimodale Schmerztherapie ist immer ein aktiver Prozess. Die Mitarbeit der Patient*innen ist essenziell. Es geht darum, besser mit den Schmerzen umzugehen, Funktionen zurückzugewinnen. Selbstbestimmt leben statt schmerzbestimmt leben, das ist unser Motto. Wir geben den Menschen Werkzeuge an die Hand für den Alltag, Übungen helfen bei Verhaltensänderungen. Der Fokus liegt nicht auf einer sofortigen Schmerzfreiheit – die können wir nicht versprechen – sondern auf stabiler Bewältigung, Rückfallprophylaxe und realistischen Zielen.

Sie haben Virtual-Reality-Therapien erwähnt. Wie funktioniert das konkret in der Schmerzbehandlung und welche Rolle spielen solche Verfahren?

Manfred Greher: VR-Therapien nutzen simulierte, computergenerierte Umgebungen, was ablenkend wirkt und die Schmerzwahrnehmung beeinflusst. Im virtuellen Raum können Bewegungen geübt oder Körperwahrnehmung geschult werden. Auch Entspannungsverfahren oder Übungen lassen sich durch VR unterstützten. Ziel ist, Schmerzgedächtnis, Vermeidungsverhalten und Bewegungsangst günstig zu beeinflussen und neue Muster aufzubauen. Wir arbeiten hier auf dem neuesten Stand der Technik. VR ist eine Ergänzung – eingebettet in das multimodale Gesamtprogramm. Das TCS Rabenhof zeigt auch damit, wie Innovation in der Versorgung aussehen kann: interdisziplinär, digital vernetzt und mit dem Menschen im Mittelpunkt.

Was sagen Sie Patient*innen, die seit Jahren Schmerzen haben und das Gefühl, ohne Erfolg „eigentlich schon alles probiert zu haben“?

Manfred Greher: Ich möchte diesen Menschen Mut machen. Viele haben vielleicht einzelne Therapieformen schon versucht, aber nicht in der koordinierten, multimodalen Form, wie wir sie in spezialisierten Einrichtungen bieten können. Das macht oft den Unterschied. Auch wenn der Schmerz vielleicht nicht vollständig verschwindet, so lässt sich doch deutlich Lebensqualität zurückgewinnen. Chronischer Schmerz ist behandelbar – wenn mehrere Ebenen optimal zusammenwirken.

Zur Person

Prim. Dr. Manfred Greher MBA studierte in Wien Medizin, nach dem Turnus arbeitete er zehn Jahre im AKH Wien an der Universitätsklinik für Anästhesie, mit einem Schwerpunkt in den Bereichen Regionalanästhesie und Schmerztherapie. Seit 2005 ist er am Herz-Jesu Krankenhaus als Anästhesie-Primarius tätig, seit 2007 zusätzlich auch als Ärztlicher Direktor des Hauses und nun auch Leiter des Therapiezentrums chronischer Schmerz im Rabenhof.

Fotos: Titelbild v.l.n.r.: Richard Crevenna, Präsident der Österreichischen Schmerzgesellschaft; Michael Heinisch, Vorsitzender der Geschäftsführung der Vinzenz Gruppe; Ulrike Königsberger-Ludwig, Staatssekretärin; Peter Hacker, Amtsführender Stadtrat für Gesundheit, Soziales und Sport; Erich Hohenberger, Bezirskvorsteher 3. Bezirk; Manfred Greher, ärztlicher Direktor Herz-Jesu Krankenhaus und Leiter des Therapiezentrums chronischer Schmerz im Rabenhof; Agnes Streissler-Führer, stellvertretende Vorsitzende des Landesstellenausschusses der ÖGK in Wien; Gemeinderat Stefan Gara, NEOS Wien; Christine Reiterer, Bezirksrätin 3.Bezirk; Elvira Czech, Geschäftsführerin Herz-Jesu Krankenhaus © Wolfgang Voglhuber/Herz-Jesu Krankenhaus; Expertenporträt Manfred Greher © APA Fotoservice-Rastegarwebp

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