Michael Heinisch (c) Wolfgang Lehner
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„Altern ist keine Krise, sondern eine Aufgabe“

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Michael Heinisch, Vorsitzender der Geschäftsführung der Vinzenz Gruppe, spricht über Kooperation, Prävention, Altern als Gestaltungsauftrag – und was passieren muss, damit Österreich „alt genug für die Zukunft“ wird.

Interview: Birgit Kofler

Die Vinzenz Gruppe hat einen Demographie-Gipfel organisiert und gemeinsam mit Expert*innen aus Wissenschaft, Politik und Praxis ein Impulspapier erarbeitet, das jetzt vorliegt. Was hat Sie veranlasst, dieses Thema in den Mittelpunkt zu rücken? Und was wollen Sie mit dieser Initiative bewirken?

Michael Heinisch: Wir erleben den demografischen Wandel längst, er ist keine Zukunftsfrage mehr, sondern Realität. Die Zahl der über 80-Jährigen in Österreich nimmt massiv zu und diese Gruppe benötigt besonders viele medizinische Leistungen. Gleichzeitig sinkt der Anteil jener, die das Versorgungssystem tragen. Zum Beispiel sind bereits mehr als 30 Prozent der Ärzt*innen über 55, nähern sich also dem Pensionsalter. Es kommen immer weniger Menschen auf den Arbeitsmarkt und es sind immer weniger Menschen bereit, Vollzeit im Gesundheitswesen zu arbeiten. Das verändert unser Gesundheits- und Sozialsystem tiefgreifend. Wir haben diese Entwicklung zum Anlass genommen, als gemeinnütziger Gesundheitsanbieter gemeinsam mit Expert*innen Lösungen zu diskutieren. Es geht uns bei dieser Initiative darum, Daten, Analysen und Erfahrungen zusammenzuführen, über institutionelle und politische Grenzen hinweg, und zur Verfügung zu stellen. Und wir leiten daraus konkrete Handlungsoptionen ab. Unser Impulspapier zeigt klar: Die Herausforderungen sind groß, aber lösbar, wenn man sie systematisch angeht.

Die Zahlen zur Alterung sind bekannt – und mehr als abstrakte Statistik. Wo zeigt es sich konkret, dass das System an seine Grenzen kommt?

Michael Heinisch: Richtig, die Eckdaten liegen auf dem Tisch. Und die Entwicklung wirkt sich deutlich auf ohnehin schon angespannte Versorgungskapazitäten aus. Wer einen Pflegeplatz für Angehörige sucht oder in ländlichen Regionen einen Termin bei Fachärzt*innen braucht, wer lange auf eine OP wartet, erlebt schon jetzt hautnah, dass das System oft an der Kapazitätsgrenze arbeitet. Hausärzt*innen fehlen, Ambulanzen sind überlastet. Das ist kein Versagen Einzelner, das ist Ausdruck einer strukturellen Schieflage.

Der Titel des Impulspapiers „Alt genug für die Zukunft?“ klingt zugleich provokant und hoffnungsvoll. Was steckt hinter dieser Frage – ein Warnruf oder mehr?

Michael Heinisch: Es ist beides – ein Warnruf und ein Appell zum Gestalten. Die Frage soll Reflexion und Diskussion anstoßen: Sind wir als Gesellschaft, als Politik, als Institutionen vorbereitet auf das, was kommt? Gleichzeitig ist sie ein Appell, den Wandel aktiv zu gestalten. Altern ist keine Krise, sondern eine Aufgabe. Die Herausforderung besteht darin, aus Lebensjahren gute Lebensjahre zu machen. Das bedeutet auch, Gesundheit nicht als Kostenfaktor zu betrachten, sondern als Zukunftssektor.

Es fällt auf, dass im Policy Paper von demografischer Wende die Rede ist. Das klingt weniger alarmistisch als „demografische Krise“, „Überalterung“ oder ähnliche Schlagwörter aus der aktuellen Debatte. Warum das?

Michael Heinisch: Ich halte nichts von Untergangsrhetorik. Der demografische Wandel ist eingebettet in globale, systemische Krisen. Aber er ist keine Krise an sich. Ja, wir werden älter. Aber das halte ich für eine Errungenschaft, keine Katastrophe. Es geht darum, Altern nicht als Defizit zu begreifen, sondern als Teil eines langen, selbstbestimmten Lebens, den wir gestalten müssen. Der Begriff Wende signalisiert: Wir stehen an einem Punkt, an dem wir die Richtung bewusst ändern können. Das ist eine Frage der Gestaltung, nicht des Schicksals. Es geht darum, die Realität anzuerkennen und Verantwortung zu übernehmen.

Michael Heinisch (c) Wolfgang Lehner

Die Herausforderung besteht darin, aus Lebensjahren gute Lebensjahre zu machen. Das bedeutet auch, Gesundheit nicht als Kostenfaktor zu betrachten, sondern als Zukunftssektor.

Dr. Michael Heinisch

Vorsitzender der Geschäftsführung, Vinzenz Gruppe

Beim Gipfel wurde ebenso deutlich wie jetzt im Impulspapier, dass Lösungen nur im Zusammenspiel von Politik, Wissenschaft und Praxis möglich sind. Wie kann dieses Miteinander konkret gelingen?

Michael Heinisch: Das beginnt mit einem Dialog auf Augenhöhe. Wir erleben oft, dass Zuständigkeiten wie Mauern wirken. Genau das wollen wir mit dieser Initiative aufbrechen, indem wir Raum schaffen, unterschiedliche Perspektiven an einen Tisch holen. Nicht, um Kompromisse zu finden, die niemandem wehtun, sondern um gemeinsam die wirklich wirksamen Hebel zu identifizieren. Die Wissenschaft liefert die Daten und Analysen, die Praxis zeigt, wo es im Alltag brennt, und die Politik muss die Rahmenbedingungen schaffen. Entscheidend ist: Alle müssen bereit sein, über den eigenen Tellerrand zu schauen und auch unbequeme Wahrheiten auszusprechen. Und wir müssen von der Kultur des „das geht nicht“ wegkommen und fragen: „Wie können wir es möglich machen?"

Ein zentraler Punkt des Policy Papers ist die Forderung nach integrierten Versorgungsnetzwerken, zum Beispiel wenn es um die Verzahnung von Medizin und Pflege geht. Was heißt das konkret – und warum haben wir das nicht längst?

Michael Heinisch: Warum wir das nicht längst haben? Weil jahrzehntelang jeder Bereich für sich optimiert wurde, statt das Ganze zu betrachten. Und das ja auch durchaus mit Erfolg. Für sich genommen ist die Qualität unserer Krankenhäuser etwa auch im internationalen Vergleich sehr gut. Aber Gesundheitsversorgung endet eben nicht bei der Optimierung der rund sieben Tage, in denen Menschen in Österreich durchschnittlich im Spital liegen. Es geht um die mehr als 80 Jahre, in denen sie unterschiedliche Lebensphasen mit ganz unterschiedlichen Anforderungen an das Gesundheits- und Sozialsystem, an Prävention, Versorgung, Reha oder Pflege haben. Es geht eben um integrierte Gesundheitsversorgung, um eine echte Patient*innenorientierung, die den Namen verdient. Derzeit stehen zersplitterte Zuständigkeiten und Finanzierungsströme einer echten Integration im Weg, führen zu Doppelgleisigkeiten und Ineffizienz. Das erklärt die aktuellen Defizite und Bruchstellen, aber die Kompetenzvielfalt darf keine Ausrede für mangelnde Kooperation sein. Wir müssen Gesundheit in den Alltag der Menschen integrieren – ganz niederschwellig. Genauso richten wir auch die Angebote der Vinzenz Gruppe aus. Wir sehen die Bedeutung von Navigationssystemen für die Menschen, und die von Anlaufstellen, in denen ein Netzwerk von Versorger*innen zur Verfügung steht.

Österreich investiert rund 5.000 Euro pro Kopf in Gesundheit, aber nur 100 Euro in Prävention. Wie lässt sich die Schieflage umdrehen?

Michael Heinisch: Dieses Verhältnis zeigt leider sehr deutlich, dass unser Fokus immer noch auf Reparatur statt Vorsorge liegt. Dabei ist völlig klar, dass Prävention gesundheitspolitisch, organisatorisch und finanziell denselben Stellenwert wie die kurative Medizin braucht. Das beginnt bei den Schulen, geht über arbeitsmedizinische Programme bis hin zu gezielter Vorbeugung im Alter. Es braucht auch Anreizsysteme, die gesundheitsbewusstes Verhalten fördern. Gesundheitskompetenz ist die Schwester der Prävention. Nur wer versteht, kann sich im Gesundheitssystem gut zurechtfinden und Eigenverantwortung leben.

Während der Pandemie haben wir gesehen, was mit Daten und Dashboards möglich ist. Welche Chancen sehen Sie in den Gesundheitsdaten, um das System künftig vorausschauender zu steuern?

Michael Heinisch: Ein integriertes Gesundheitswesen braucht integrierte Datenbestände. Wir haben gute Gesundheitsdaten, aber wir nutzen sie viel zu wenig für strategische Steuerung. Dabei wären datenbasierte Frühwarnsysteme, Monitoring-Tools oder auch Szenarienrechnungen so wichtig, um den demografischen Wandel aktiv zu gestalten. Wenn man etwa sieht, dass in einer Region viele Hausärzt*innen gleichzeitig in Pension gehen, kann man rechtzeitig gegensteuern. Wenn man analysiert, dass bestimmte Erkrankungen in einem Bezirk überdurchschnittlich häufig auftreten, kann man gezielte Programme entwickeln. Würden wir anhand der Daten die Pfade von Patient*innen quer über alle Bereiche im Gesundheitssystem systematisch verfolgen, könnten wir früher Brüche in der Versorgung erkennen, sie beseitigen und Spätfolgen vermeiden. Wir brauchen dafür klare Verantwortlichkeiten und eine Kultur, die Daten als Grundlage für Entscheidungen versteht und nicht als Risiko.

(c) Roland Rudolph
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Der demografische Wandel stellt auch die Finanzierung des Gesundheitswesens auf die Probe. Was müsste sich ändern, damit Mittel dort ankommen, wo sie den größten Nutzen bringen?

Michael Heinisch: Die Finanzierungsströme folgen derzeit der Logik der Strukturen, nicht der Logik der Gesundheit. Das muss sich grundlegend ändern. Aktuell belohnt unser System etwa oft teure Einzelleistungen im stationären Bereich, statt Prävention und kontinuierliche Betreuung zu fördern. Das ist weder effizient noch patient*innenorientiert. Wir finanzieren Krankenhäuser, Kassenstellen, Reha oder Pflege für sich, aber nicht den gesamten Versorgungspfad. Wir brauchen eine Finanzierung, die sektorenübergreifend wirkt. Wir müssen dort investieren, wo Gesundheit entsteht und nicht nur dort, wo Krankheit behandelt wird. Das erfordert Mut zur Umverteilung.

Schauen wir in das Jahr 2035. Was müsste bis dahin passiert sein, damit Sie sagen können – Österreich ist tatsächlich „alt genug für die Zukunft“ geworden?

Michael Heinisch: Wenn wir die Menschen wirksam in der Navigation durch das komplexe gesundheits- und Sozialsystem unterstützen; Wenn wir es schaffen, die vielen Institutionen und Akteure zu kommunizierenden Gefäßen zu machen; Wenn es uns damit gelingt, dass Gesundheit und Pflege tatsächlich nahtlos ineinandergreifen; Wenn wir Technologie menschengerecht einsetzen und den Fachkräften damit die Möglichkeit geben, die steigende Nachfrage nach Gesundheitsleistungen effektiv und effizient zu decken; Wenn wir Daten nutzen, um vorausschauend zu planen, statt Krisen zu verwalten; Wenn Prävention selbstverständlich ist und Gesundheitskompetenz Teil unserer Bildung; Wenn Menschen – unabhängig vom Alter, Einkommen oder Wohnort - ein möglichst gesundes und selbstbestimmtes Leben und die Sicherheit haben, gut versorgt zu sein; Und wenn wir sagen können, dass Gesundheit nicht als Kostenfaktor betrachtet wird, sondern als Grundvoraussetzung für Teilhabe, wirtschaftliche Stabilität und gesellschaftlichen Zusammenhalt. Dann wären wir wirklich „alt genug für die Zukunft“.

Auf einen Blick

„Alt genug für die Zukunft – Österreichs Weg in die demografische Wende“

Expert*innen wie Komplexitätsforscher Peter Klimek, Gesundheitsökonomin Maria Magdalena Hofmarcher-Holzhacker, Fiskalrats-Präsident Christoph Badelt, ÖGK-Obmann Andreas Huss, SVS-Generaldirektor Alexander Biach, Regina Fuchs von Statistik Austria und Bundesrat Franz Ebner liefern in diesem Papier der Vinzenz Gruppe wichtige Impulse. Das Dokument leitet aus den Einsichten fünf zentrale Handlungsempfehlungen für Politik, Gesundheitssystem und Gesellschaft ab:

  • Zuständigkeiten klären und Systembrüche zwischen Gesundheit und Pflege überwinden: Ein integriertes Gesundheitswesen braucht klare Verantwortung für sektorenübergreifende Prozesse statt Silodenken und darf die Koordination der vielen Akteur*innen und Institutionen nicht von den Betroffenen automatisch abverlangen.

  • Prävention und Gesundheitskompetenz stärken: Diese Bereiche müssen politisch, finanziell denselben Stellenwert erhalten wie die Behandlung von Krankheiten. Das rechnet sich langfristig enorm.

  • Datenbasiert entscheiden: Noch nie hatten wir so viele Daten und so wirksame Technologien, sie zu analysieren. Gesundheitsdaten müssen systematisch für vorausschauende gesundheitspolitische Planung genutzt werden, aber auch für individuelle Gesundheitsentscheidungen.

  • Integrierte Versorgung über alle Lebensphasen aufbauen: Es braucht Gesundheitsnetzwerke mit gemeinsamer Patient*innenorientierung und flexiblen, abgestimmten Angeboten. Sie sollen Menschen ihr Leben lang, in allen Phasen begleiten.

  • Finanzierung neu denken: Finanzierungsströme müssen an der Logik von Gesundheit ausgerichtet werden, nicht an Strukturinteressen. Und sie müssen dorthin gelenkt werden, wo sie am besten wirken. Die richtigen Patient*innen am richtigen Ort zum richtigen Zeitpunkt – das ist „best point of service“: Daran müssen sich Steuerungsbemühungen orientieren.

Das vollständige Impulspapier und die Expert*innenvorträge stehen unter www.vinzenzgruppe.at/demografie zur Verfügung.

Zur Person:

Dr. Michael Heinisch ist Vorsitzender der Geschäftsführung der Vinzenz Gruppe, seit 2001 gehört er der Geschäftsführung der Vinzenz Gruppe an. Er studierte an der Wirtschaftsuniversität Wien und arbeitete am Management-Zentrum St. Gallen und bei der VA Tech. Heinisch, lehrt Health Care Management an der Wirtschaftsuniversität Wien und der Donau-Universität Krems und ist Vorsitzender des Universitätsrates der Medizinischen Universität Graz.

Fotos: Titelbild und Testimonial (c) Wolfgang Lehner; Galerie (c) Roland Rudolph

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