Porträt Elisabeth Potzmann
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„Qualifiziertes Personal im Beruf halten"

Gesundheitspolitik
Personen & Porträts

Im Vorfeld des Internationalen Tages der Pflege am 12. Mai fordert Mag.a Elisabeth Potzmann, Präsidentin des Österreichischen Gesundheits- und Krankenpflegeverbands, attraktivere Rahmen- und Arbeitsbedingungen für die Pflege.

Interview: Birgit Kofler

Frau Präsidentin, wie zufrieden sind Sie mit dem Abschnitt des aktuellen Regierungsprogramms, der sich mit dem Thema Pflege beschäftigt?

Elisabeth Potzmann: Ich bin damit gar nicht unglücklich, in den aufgelisteten Vorhaben steckt viel Potenzial. Wir finden hier viele unserer jahrelangen Forderungen zumindest auf dem Papier wieder. Wir begrüßen das Bekenntnis zur weiteren Professionalisierung der Pflege, auch im Sinne neuer Rollenentwicklungen wie School Nurse, Community Nurse und das gesamte Spektrum der Advanced Nurse Practice. Jetzt müssen wir sehen, was tatsächlich zur Umsetzung gelangt. Hier ist sicher auch eine Aufgabe der Standesvertretung, daran mitzuarbeiten, wie sich die Überschriften konkret mit Leben füllen lassen.

Von den vielen Themen, die im Pflegebereich angepackt werden müssen: Welche haben aus Ihrer Sicht die höchste Priorität?

Elisabeth Potzmann: Die dringendste Aufgabe ist sicher, unser qualifiziertes Personal in der Ausbildung und dann vor allem im Beruf zu halten. Gemessen an der Kopfzahl haben wir gar nicht so wenig ausgebildete Pflegepersonen in Österreich. Das große Problem ist, dass viele das System verlassen. Wir müssen die Rahmen- und Arbeitsbedingungen unbedingt verbessern. Auch für die, die im System bleiben, aber zum Beispiel ihre Arbeitszeit reduzieren. Mehr Vollzeitbeteiligung ließe sich unter anderem über eine höhere Dienstplanstabilität erreichen.  Wichtig ist es auch, neue Rollen und Aufgabenbereiche entwickeln, die attraktiv sind. Wir wissen, dass junge Menschen nicht mehr 365 Tage rund um die Uhr dem Arbeitgeber zur Verfügung stehen wollen. Work-Life-Balance ist das bekannte Stichwort. Modelle wie School Nurses oder Community Nurses sind aus Sicht vieler ideal, um wohnortnah und höchst versorgungswirksam zu arbeiten. Wichtig für all diese Veränderungen ist eine grundlegende Strukturreform – weniger Krankenhausbetten, dafür mehr vor- und nachgelagerte Angebote wie Primärversorgungseinheiten oder Pflegepraxen. Die Vinzenz Gruppe ist mit ihren Gesundheitsparks Vordenker in diese Richtung, solche Konzepte gehören konsequent weitergeführt und ausgebaut. Wenn wir wegkommen vom hohen Personalbedarf im Krankenhaus, werden wir in der Personalfrage eine deutliche Entlastung spüren und die neuen Angebote besetzen können.

Sie haben die hohe Dropout-Rate im Pflegeberuf angesprochen, gibt es konkrete Zahlen?

Elisabeth Potzmann: Es gibt eine Studie des Boltzmann-Instituts für Medizin- und Gesundheitssoziologie, die eine mittlere Verweildauer im Pflegeberuf von nur vier bis sechs Jahren nach Abschluss zeigt – das ist erschreckend wenig. Diese stammt aus 2003, und aktuelle Daten fehlen. Das Gesundheitsberuferegister gibt hier leider nicht den Aufschluss, den man sich wünschen würde. Denn nicht alle Kolleginnen und Kollegen melden sich dort ab, wenn sie den Beruf verlassen. Die Differenz zwischen Ausgebildeten und tatsächlich Aktiven ist aber jedenfalls hoch, sie liegt bei etwa 40.000 Personen. Wenn wir nur 5.000 von ihnen mit attraktiven Angeboten zurückgewinnen könnten, wäre das ein großer Fortschritt – und deutlich einfacher als die aufwändige Rekrutierung aus Drittstaaten.

Viele Bundesländer und Spitalsträger setzen aber zunehmend genau darauf. Zuletzt hat auch die Gemeinde Wien eine einschlägige Initiative vorgestellt, das Regierungsprogramm verspricht Vereinfachungen. Ist das ein richtiger Weg?

Elisabeth Potzmann: Das ist ein hochkomplexes Thema mit sehr vielen Facetten. Erst  kürzlich haben wir diese Frage beim Treffen der Europäischen Föderation der Pflegeverbände EFN in Brüssel das diskutiert. Man muss die gesamte Situation analysieren – wenn wir nur egoistisch auf Österreich schauen, schaffen wir in anderen Ländern Probleme. Das alles hat ethische Komponenten, die wir nicht außer Acht lassen dürfen. Die neuen Rekrutierungsoffensiven gehen in Richtung von Drittstaaten in entfernten Teilen der Welt, weil in Europa kaum noch Pflegekräfte anzuwerben sind. Die Integration von Menschen aus völlig anderen Kulturen, Klimazonen und mit einem anderen Pflegeverständnis ist eine große Herausforderung. Sprachliche Hürden, lange Nostrifikationsverfahren gehören dazu. Der finanzielle und organisatorische Aufwand ist enorm. Headhunter verlangen mittlerweile bis zu 20.000 Euro pro vermittelte Person. Dazu kommen Kosten für Qualifizierung, Wohnung, Familiennachzug, Spracherwerb und Onboarding. Die Sonderbehandlung kann auch Spannungen in bestehenden Teams auslösen. Wenn langjährige Pflegekräfte um zwei Tage Fortbildung kämpfen müssen, während für die Drittstaatenrekrutierung umfassende Ressourcen da sind, ist das nicht immer nachvollziehbar. Es gibt hier also keine schnellen und einfachen Lösungen.

Elisabeth Potzmann (c) ÖGKV/Christian Schneider

Die Ressource Pflege wird im Gesundheitssystem systematisch unterschätzt, zum Teil auch nach wie vor von der Gesundheitspolitik.

Mag.a Elisabeth Potzmann

Präsidentin des Österreichischen Gesundheits- und Krankenpflegeverbandes (ÖGKV)

Ein anderer Ansatz zur Verbesserung der Personalsituation zielt darauf ab, die Durchlässigkeit aus anderen Berufen in die Pflege zu stärken, zum Beispiel aus dem Bereich ausgebildeter Sanitäter*innen. Wie sehen Sie diese Strategie?

Elisabeth Potzmann: Der zweite Bildungsweg ist in der Pflege immer schon ein wichtiges Thema gewesen. Das betrifft nicht nur andere Gesundheitsberufe. In Ostösterreich – hier kenne ich die Situation gut – werden Umstiegs- und  Umschulungsmaßnahmen gut gefördert und angenommen. Wir müssen aber auch aufpassen, dass wir die richtigen Personen fördern. Ich erinnere mich an Projekte, wo nach großen Betriebsschließungen hunderte Kolleginnen und Kollegen in einem einjährigen Angebot in die Pflegeassistenz umgeschult wurden und dann keine einzige Person je in der Pflege ankam. Man muss daher durch Auswahlverfahren sicherstellen, dass wir tatsächlich jene erreichen, die in dem Beruf auch arbeiten wollen. Mit dem neuen Ausbildungsentgelt wird der Weg, sich für die Pflege zu qualifizieren, sicher attraktiver.

Was sind eigentlich die häufigsten Klischees, die Ihnen zum Thema Pflege begegnen?

Elisabeth Potzmann: Das beginnt schon beim Begriff „Pflege“, der ist leider etwas verbrannt, weil er inflationär eingesetzt wird. Viele Menschen denken bei Pflege zum Beispiel  an die typische 24-Stunden-Betreuung. Wer noch nie in einem Krankenhaus oder Pflegeheim war, sieht Pflegekräfte nie in ihrem Habitat und hat daher wenig Vorstellungen zur Tätigkeit. Wenn es einmal mehr niedergelassene diplomierte Pflegepersonen gibt, wird sich das sicher ändern. Ein klassisches Klischee zeigt sich in Medienberichten, wo immer wieder als Bebilderung der typische Waschhandschuh gezeigt wird. Das suggeriert: Pflege ist etwas, das wir alle können. Denn jemanden waschen, das können wir alle. Das geht stark in Richtung Deprofessionalisierung. Aber selbst bei dieser scheinbar einfachen Tätigkeit macht Professionalität einen entscheidenden Unterschied – man kann dabei viel falsch machen. Diese Bild hängt sehr stark mit der verbreiteten falschen Vorstellung zusammen, die viele von der Qualifikation diplomierter Pflegepersonen haben. Diese Ressource wird im Gesundheitssystem systematisch unterschätzt, zum Teil auch nach wie vor von der Gesundheitspolitik. Wenn wir uns nordeuropäische Länder wie Dänemark anschauen, sehen wir selbstbewusste Pflegepersonen, die mit einem völlig anderen Selbstverständnis arbeiten – und deren Rolle auch anders gesehen wird. In Österreich hat man, scheint es mir, oft Angst, was passieren könnte, wenn man der Pflege mehr Verantwortung gibt. Dabei könnten wir so viel beitragen. Wir könnten die vielzitierte „Drei-Minuten-Medizin“ längst entlasten, wenn nicht alle Patient*innen, die das Gesundheitssystem beanspruchen, einem Arzt oder einer Ärztin vorgestellt werden müsste. Selbst wer sich mit der Nagelfeile ins Nagelbett geschnitten hat und nur ein Pflaster braucht, wird zum diensthabenden Oberarzt gebracht. So kann sich das System nicht ausgehen.

Sie haben das Verwechseln von Personenbetreuung und professioneller Pflege angesprochen. Tatsächlich werden bei der Betreuung zu Hause oft erst sehr spät diplomierte Pflegekräfte beigezogen. Würde das besser funktionieren, wenn das Pflegegeld eine Sachleistung wäre? Oder muss an Betroffene und Angehörige besser kommuniziert werden, wann Pflegeprofis an Bord geholt werden müssen?

Elisabeth Potzmann: Ich fürchte, kommunizieren allein wird nicht helfen. Solange es sie nicht konkret betrifft, wollen sich viele Menschen nicht mit dem Pflegethema beschäftigen. Vielleicht ist das eine Verdrängung, gepaart auch mit fatalistischem Vertrauen, dass der Staat schon eine Ressource zur Verfügung stellen wird, wenn einmal so weit ist. Wenn dann der Ernstfall eintritt – die Mutter stürzt beispielsweise, kommt ins Krankenhaus, wird entlassen und braucht Unterstützung – verengt sich der Blick: Wie löse ich das schnell? Da ist dann oft keine Zeit, die Angebote differenziert anzusehen. Tatsache ist: Die 24-Stunden-Betreuung ist nicht mehr wegzudenken. Natürlich ist es umso besser, je früher auch professionelle Pflege hinzugezogen wird. Nur muss man hier auch realistisch sein, wir haben in der mobilen Pflege in manchen Regionen Wartezeiten von bis zu acht Wochen. Daher halten wir beim Pfleggeld eine Teilsachleistung für sinnvoll. Spätestens ab Pflegestufe 4 sollte keine Betreuung mehr ohne professionelle Pflege stattfinden können. Sonst werden die Menschen immer später vorgestellt und kommen letztlich in einem sehr schlechten Allgemeinzustand in Pflegeheimen an. Viele aktivierende Konzepte sind in der institutionalisierten Altenpflege gar nicht mehr machbar, weil die Bewohner*innen in einer so schlechten Verfassung sind.

Welche Potenziale bietet die Digitalisierung, insbesondere KI, für die Pflege?

Elisabeth Potzmann: Der Kern der Pflege ist analog und wird es immer bleiben. Aber es gibt natürlich auch in unserem Bereich, wie im gesamten Gesundheitswesen, enormes Potenzial. Wenn man sich ansieht, was etwa in China etwa mit KI-gestützten „Ageing Clinics“ schon möglich ist, gibt das schon einen Eindruck. Besonders große Veränderungen werden in der Diagnostik, im Datenaustausch und bei der Dokumentation kommen. Da müssen wir seitens der Pflege mit an Bord sein, denn das bietet auch große Chancen. Teilweise schreiben wir in der Pflege heute noch händisch auf Karteikarten, während moderne Systeme bereits mithören, mitdokumentieren und Daten clustern können. Diese digitale Transformation ist mehr als nur die Bereitstellung digitaler Tools. Es geht um einen Kulturwandel und Vertrauensbildung. Ich bin überzeugt, dass wir in zehn Jahren in einer völlig anderen Welt leben werden – das wird eine disruptive Erneuerung, die wir heute erst ansatzweise spüren.

Zur Person

Mag.a Elisabeth Potzmann ist seit Juli 2020 Präsidentin des Österreichischen Gesundheits- und Krankenpflegeverbandes. Die ausgebildete Intensivpflegerin studierte Pflegepädagogik und Pflegewissenschaft an der Universität Wien und absolvierte die Pflegemanagementausbildung an der Fachhochschule Campus Wien. Vor ihrer derzeitigen Tätigkeit war sie im Anästhesie- und Intensivpflegebereich, in der Lehre und in Führungspositionen tätig. Im Laufe ihrer beruflichen Laufbahn entwickelte sie immer wieder innovative Projekte, wie etwa die Prämierung von hervorragenden Fachbereichsarbeiten unter dem Titel „Fachkompetenz braucht Auszeichnung“.

Fotos: © ÖGKV/Christian Schneider

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