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„Wir verpassen die KI-Revolution der Gesundheitsplanung“

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Komplexitätsforscher Peter Klimek erklärt im INGO-Gespräch das in Österreich noch zu wenig genutzte Potential von Big Data und KI für Gesundheitsplanung und Versorgungssicherheit.

Interview: Sebastian Deiber

Aus gegebenen Anlass wurde in den vergangenen Monaten über die Qualität der Notfallversorgung in Österreichs Spitälern diskutiert. Gesundheitsministerin Korinna Schumann sagte gegenüber der "Presse", dass an einer "zentralen Datenplattform" kein Weg vorbeiführe, um Abläufe besser zu koordinieren. Wie sehen Sie das?

Peter Klimek: In der Notfallmedizin, einem der herausforderndsten medizinischen Felder, treffen hochspezialisierte Teams ganz fallspezifische Entscheidungen. Daher bin ich da zurückhaltend mit Erwartungen an datenbasierte Lösungen. Klar hilft es, einen besseren Datenüberblick zu haben. Aber das alleine wird nicht vor Problemen schützen, die in den Prozessen auftreten können. Notfälle werden immer hochkomplex und schwer vorhersagbar sein.

Ein anderes brisantes Thema sind die geplanten Umstrukturierungen im Spitalsbereich, die fallweise die Verlegung von Standorten und Spezialleistungen nach sich ziehen könnten. Können datenbasierte Modelle helfen, Spitalsressourcen optimal zu planen?

Peter Klimek: Ja, denn Änderungen im Bedarf sind geprägt vom demografischen Wandel. Wenn die Bevölkerung altert, werden „Volkskrankheiten“ häufiger und bestimmte Behandlungen mehr nachgefragt. Die gute Nachricht: Man kann sehr gut abschätzen, welcher Bedarf wo entsteht, denn der demografische Wandel ist die vorhersagbarste Krise, die wir haben. Das Schlechte: Das allein wird nicht reichen, weil der erhöhte Bedarf auf ein Gesundheitssystem mit alterndem Personal und immer weniger Beitragszahler*innen trifft. Die Herausforderung ist komplexer, wir müssen auch verstehen mit welchen Interventionen wir am effektivsten Druck aus dem System nehmen können. Dafür brauchen wir Daten über individuelle Behandlungsgeschichten, um Risikopatient*innen zu identifizieren und gezielte Prävention zu ermöglichen. Diese Fragen sollten wir uns nicht nur für die Bedarfsplanung der Spitäler stellen, sondern auch für die primäre und sekundäre Versorgung, Apotheken und andere Gesundheitseinrichtungen. Aus der Forschung ist bekannt, dass der Schlüssel für personalisierte Prävention die Kontinuität der Versorgung ist. Das bedeutet, dass Patient*innen regelmäßig von idealerweise demselben Gesundheitsdienstleister, beispielsweise vom Hausarzt, gesehen werden. Je höher diese Kontinuität, desto geringer die Wahrscheinlichkeit, multimorbide zu werden, unabhängig vom Bildungsgrad oder anderen Faktoren. Wenn Menschen länger aus der Versorgung herausfallen, schlagen sie später mit höherer Wahrscheinlichkeit mit mehr und schwereren Erkrankungen auf. Das gilt es zu verhindern. Doch um Behandlungsgeschichten im Detail nachvollziehen zu können, brauchen wir die entsprechenden Daten.

Werden denn schon genug Daten erfasst?

Wir haben in Österreich tatsächlich wenige Lücken, unser Problem liegt vielmehr beim Verknüpfen der vorhandenen Daten. Nehmen wir an, wir möchten erfassen, ob ein*e Notfallpatient*in eher im Spital oder in der Ambulanz überlebt, abhängig davon, was beim Transport gemacht wird. Dazu müssten wir die Daten von beiden Stellen zusammenbringen. Nur sind sie leider getrennt gespeichert und können nicht verknüpft werden. Somit können Maßnahmen oft nur eingeschränkt bewertet und effektiver gemacht werden. Diese Herausforderung zieht sich durch alle Versorgungsbereiche – Gesundheitsdaten liegen verstreut bei den Versicherungen, den Landesgesundheitsfonds, beim Ministerium. Kein Stakeholder hat die komplette Übersicht. Ein gemeinsamer Datenraum müsste her, der eine Verknüpfung ermöglicht, damit Behandlungsgeschichten und auch sozio-ökonomische Merkmale als Ganzes erfasst werden und nicht nur einzelne Schlaglichter. Insofern schöpfen wir in Österreich unser Datenpotential noch nicht aus.

Was muss geschehen, damit sich das ändert?

Es gab bereits eine 15a-Vereinbarung zwischen Bund, Ländern und Sozialversicherungsträgern für eine gemeinsame Datenhalteplattform. Aber seitdem hat sich nichts getan. Es scheint in erster Linie an politischem Willen zu fehlen, die Vereinbarung umzusetzen sowie an einer Pattstellung unter den Stakeholdern: Jeder würde lieber die Daten bei sich sammeln, als sie aus der Hand zu geben. Einige andere Länder, die hinsichtlich der Bevölkerungszahl eine gute Benchmark für uns sind, haben das bereits besser hinbekommen. Zum Beispiel die Niederlande, Belgien oder Portugal.

Peter Klimek © MedUni Wien/Matern

Der demografische Wandel ist die vorhersagbarste Krise, die wir haben.

Assoc.Prof. Priv.-Doz. Mag. Dr. Peter Klimek

MedUni Wien und Complexity Science Hub

Wie arbeiten Sie mit Daten, um zu erforschen, wie sich Gesundheitsbedürfnisse vorhersagen lassen?

Peter Klimek: Das Ziel ist immer, statistische Regelmäßigkeiten zu erfassen, die uns sagen, wie sich Krankheiten entwickeln und in welcher Reihenfolge. Je besser man individuelle Patient*innengeschichten kennt, desto eher kann man vorhersagen, welche Gesundheitsbedürfnisse entstehen werden. Das ist an sich nichts Neues. Statistische Modelle kodifizieren aber das Wissen, wie Krankheiten aufeinander aufbauen, sodass sich Prognosen auf die ganze Bevölkerung skalieren lassen. Wir machen das zum Beispiel mit sogenannten Komorbiditätsnetzwerken.

Was sind Komorbiditätsnetzwerke?

Peter Klimek: Wir wissen, dass eine Erkrankung gerade bei Älteren selten allein kommt. Die Fragestellung ist, welche Diagnosen häufiger gemeinsam vorkommen, als man durch Zufall erwarten würde. Diese werden dann in einem sogenannten Komorbiditätsnetzwerk miteinander verbunden. Die identifizierten Verbindungen ergeben distinkte Cluster von Erkrankungen, die häufig gemeinsam vorkommen, etwa im Herz-Kreislauf-System. Diese Muster helfen, vorherzusagen, welche Folgeerkrankungen zu erwarten sind, wenn ein*e Patient*in eine bestimmte Kombination an Diagnosen hat.

Welches Potential hat künstliche Intelligenz in der Gesundheitsplanung?

Peter Klimek: KI-Modelle sind sehr gut darin, verknüpfte Daten aus sehr vielen unterschiedlichen Quellen zu analysieren, auch unstrukturierte Daten wie Texte und Bilder. In dieser Hinsicht sind sie ein Gamechanger.

Wo die Reise hingeht zeigen Studien, die etwas ähnliches wie ein Sprachmodell nutzen, um basierend auf sogenannten „sequences of life-events“ Prognosen zu erstellen. So wie die Wörter eines Satzes lassen sich auch gesundheitsrelevante Lebensereignisse – ich habe Diagnose X, nehme Medikament Y und bin eine Zeitlang arbeitslos – als Sequenz betrachten. Anstatt wie ChatGPT das nächste Wort vorherzusagen, prognostizieren diese Modelle das nächste wahrscheinlichste Gesundheitsereignis. In Österreich ist das aber nicht möglich, da wir diese Ereignissequenzen aufgrund der mangelnden Datenverknüpfung nicht darstellen können ‒ was effektiv heißt, dass wir die KI-Revolution in der Gesundheitsplanung zu verpassen drohen.

Zur Person

Peter Klimek ist Associate Professor an der Medizinischen Universität Wien und Wissenschaftler am Complexity Science Hub. Der Komplexitätsforscher, Datenexperte und Physiker forscht zur Vorhersage von Ereignissen in komplexen sozioökonomischen Systemen, vom Gesundheitswesen bis hin zu Wirtschafts- und Finanzsystemen. Seit 2023 leitet er das Supply Chain Intelligence Institute Austria (ASCII). 2021 wurde er vom Klub der Bildungs- und Wissenschaftsjournalisten zum Wissenschaftler des Jahres gewählt.

Fotos: Titelbild © CSH/Eugenie Sophie; Expertenporträt © MedUni Wien/Matern

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