Univ.-Prof.in Dr.in Eva Katharina Masel
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„Über das Sterben zu reden hat noch niemanden umgebracht“

Personen & Porträts
Versorgung

Univ.-Prof.in Dr.in Eva Katharina Masel spricht im INGO-Interview über Mythen in der Palliativmedizin, die notwendige Entstaubung des Themas und Versorgungslücken in Österreich.

Interview: Birgit Kofler

Frau Professorin Masel, was hat Sie persönlich eigentlich in das Feld der Palliative Care gebracht?

Eva Katharina Masel: Es ist nicht so, dass ich in der Volksschule schon Palliativmedizinerin werden wollte – da war eher Zen Meisterin meine Berufsvorstellung. Nach dem Medizinstudium habe ich auf einer Orthopädie gearbeitet und gemerkt: Im Operationssaal kann ich nicht mit den Patient*innen sprechen, und genau das mache ich aber gerne. Dann habe ich mich an eine Vorlesung während des Studiums von Prof. Herbert Watzke über Palliativmedizin erinnert. Da kam der Mensch in all seinen Facetten vor. Nach meinem Einstieg hier in der Palliativabteilung bin ich diesem Fachgebiet seit 2010 treu geblieben. Auch, weil es so vielseitig ist. Es geht nicht nur ums rein Medizinische, sondern auch um humanistische Aspekte: Wie sind die Menschen sozialisiert, was haben sie für Gedanken, Werte und Wünsche?

Im aktuellen Regierungsprogramm steht zu Palliative Care nur die knappe Zeile „Ausbau Hospiz- und Palliativversorgung". Wie müsste denn diese Überschrift mit Inhalten gefüllt werden?

Eva Katharina Masel: Ich bin wirklich überzeugt, jeder einzelnen politischen Partei ist dieses Thema wichtig. Das ist ein gewisser Vorteil, aber es ist in einem großen Regierungspaket dann doch immer noch ein Randthema. Wir müssen in diesem Bereich endlich weg vom Konjunktiv und der Haltung „gut, dass es jemanden gibt, der das macht". Wir müssen endlich sehen, dass es hochrelevant ist uns alle betrifft – unsere Familien, Freunde, Angehörigen. Das ist ein Thema der gesamten Gesellschaft, nicht nur der unmittelbar Betroffenen. Das Hospiz- und Palliativfondsgesetz, das 2022 in Kraft getreten ist, muss mit Leben gefüllt werden. Die Regierung hat versprochen, den Bereich in die Regelfinanzierung zu überführen – wir sind zum Teil ja immer noch von Spenden abhängig. Es wurden zwar bereits zwischen 2022 und 2025 Beträge in Millionenhöhe ausgeschüttet, finanziert von Bund, Ländern und Sozialversicherung im Rahmen der Zielsteuerung. Aber wir wissen nicht genau, wohin exakt Geld unter diesem Titel geflossen ist. Für den Krebsreport haben wir dazu alle Bundesländer angefragt – von drei haben wir überhaupt keine Antwort bekommen, die anderen Rückmeldungen waren vage. Wir brauchen hier dringend Qualitätssicherung und Nachvollziehbarkeit.

Was sind die größten Irrtümer und Klischees über Palliativmedizin, die Ihnen immer wieder begegnen?

Eva Katharina Masel: „Ich könnte das nicht“ ist wohl die häufigste Reaktion, wenn ich sage, was ich beruflich mache. Ein großer Mythos ist, dass es Unglück bringt, über den Tod zu sprechen. Aber über das Sterben zu reden hat noch niemanden umgebracht. Manche Menschen glauben auch, ich sei als Palliativmedizinerin eine Art Medium und wüsste genau, was auf sie zukommt am Lebensende. Es ist auch ein Mythos, dass bei uns nur gestorben wird. Die Aufenthaltsdauer auf einer Palliativstation ist etwa ein bis drei Wochen, dann versucht man, eine weitere Versorgung zu finden oder die Leute nach Hause zu entlassen. Ein besonders verbreiteter Irrtum ist, dass es in der Palliative Care ausschließlich ums Sterben ginge. Natürlich schiebt man so etwas gerne von sich weg. Tatsächlich geht es um viel mehr: Was ist mir im Leben wichtig? Wie lebe ich gern? Sterbende sind Lebende, und bis zum unmittelbaren Tod, der eigentlich sehr kurz ist, ist man ein lebendiger Mensch mit Ängsten, Vorstellungen und Wünschen. Ich glaube, wir müssen das ganze Feld der Palliative Care auch entstauben. Wir sehen noch immer so oft diese klischeehafte Symbolik – die knorrigen Hände, die Sonnenblumen, den Steg ins Jenseits, die traurigen Kalendersprüche.

Was unterscheidet Palliativmedizin von anderen medizinischen Bereichen?

Eva Katharina Masel: Die Hierarchie ist nicht so relevant. Es geht darum, Beziehung aufzubauen, und die Patient*innen suchen sich ihre Betreuenden mitunter aus. Ein ganz wichtiges Merkmal von Palliative Care ist die Intelligenz der Gruppe, die Teamarbeit. Das Leid der Menschen, das so oft zu unserer Türe hereinkommt, teilt sich auf mehrere Berufsgruppen auf. Was viel ausmacht, ist das Hinsetzen, das Zeitnehmen. Zu fragen: „Erzählen Sie mir, was ich über Sie wissen muss, um Sie bestmöglich betreuen zu können.“ Wenn Menschen merken, dass sie uns als Individuum interessieren, und nicht nur ihre medizinischen Eckdaten, schöpfen sie Kraft, mit ihrer Situation umzugehen.

Das Gesetz zum assistierten Suizid gibt es seit gut drei Jahren. Wie ist die Erfahrung aus Sicht der Palliative Care?

Eva Katharina Masel: Interessanterweise fällt es den Menschen durch dieses Gesetz offenbar leichter, über das Sterben zu sprechen. Wir müssen aber die Relationen sehen. In Österreich sterben pro Jahr etwa 80.000 bis 90.000 Menschen. Und Stand 1. März 2025 wurden seit Inkrafttreten des Gesetzes am 1. Jänner 2022 österreichweit 626 Sterbeverfügungen errichtet und 510 Präparate abgegeben, 83 Präparate wurden retourniert. Die Zahlen sind das eine, die Aufmerksamkeit ist das andere. Der assistierte Suizid wird teilweise auch sehr romantisiert. Begriffe wie „humanes Lebensende“ oder „würdiges Sterben“ suggerieren, das wäre nur mit einer tödlichen Substanz möglich. Als Palliativmedizinerin kann ich dem widersprechen – es geht auch anders. Ich kenne die Ambivalenz des Sterbewunsches und weiß, wie wenig es manchmal braucht, dass er auch wieder in den Hintergrund tritt. Oft reicht eine minimale Dosis eines Schmerzmittels. Wovor ich mich fürchte ist, dass Menschen relativ schnell ein tödliches Präparat bekommen, obwohl es noch viele andere Möglichkeiten gäbe – nur weil zu wenige Ressourcen da sind.

Eva Masel (c) MedUni Wien/Feelimage

Mir ist es wichtig, das Thema Sterben und vor allem den Weg dorthin ins Leben zu holen.

Univ.-Prof.in PDin DDr.in Eva Katharina Masel, MSc

Leiterin der Klinischen Abteilung für Palliativmedizin am Allgemeinen Krankenhaus Wien der Medizinischen Universität Wien, Lehrstuhl für Palliativmedizin

Können Sie die Ressourcenlücke konkretisieren, die wir in Österreich haben?

Eva Katharina Masel: Zehn bis 20 Prozent jener, die pro Jahr sterben, brauchen eine spezialisierte Hospiz- und Palliativversorgung. Das betrifft also bis zu 16.000-18.000 Menschen jährlich, und das sind nicht nur Krebspatient*innen. Wir haben nach offiziellem Stand 2022 aber nur 464 Hospiz- und Palliativbetten in ganz Österreich. An diesen Zahlen sieht man schon: Das geht sich hinten und vorne nicht aus.

Wie können andere Versorgungsebenen im Sinne von Palliative Care gestärkt werden, wenn die spezialisierte Versorgung limitiert ist?

Eva Katharina Masel: Community Nursing halte ich in dem Zusammenhang für sehr wichtig. Und auch den Ansatz, in der Gesellschaft mehr Solidarität zu schaffen, etwa durch altersgemischte Wohngemeinschaften und Bürger*innenengagement. Ein Beispiel sind die Letzte-Hilfe-Kurse für Interessierte. Das ist nicht nur eine Aufgabe der Medizin, sondern der gesamten Gesellschaft. Was die Medizin lernen muss, auf allen Versorgungsebenen, ist Therapieziel-Planung. Wenn bestimmte Behandlungen mehr Nebenwirkungen als Wirkung haben, brauchen wir eine Änderung des Therapieziels, manchmal auch in Richtung „Sterben zulassen".

Sie haben ein Buch geschrieben mit dem Titel „Gut gelaufen. Schöne Abschiede vom Leben“. Wie kann man Menschen verständlich machen, dass es nicht nur schreckliche Abschiede gibt, sondern schöne?

Eva Katharina Masel: Wir können das wirklich, der Abschied ist in uns angelegt. Das Umfeld von Sterbenden klammert sich oft an Strohhalme, will das, was ein „Wunderwuzi“ aus Amerika verspricht, den sie gegoogelt haben. Oder einfach möglichst viele Maßnahmen. Dann muss man diese Leute ans Bett setzen und sagen: Nehmen Sie die Hand Ihres oder Ihrer Angehörigen, legen Sie die Hand auf den Brustkorb und bleiben Sie fünf Minuten sitzen. Dann merken sie plötzlich: Die Person atmet ruhig, ist gelassen. Es geht auch darum, den Menschen die Fähigkeit zurückzugeben, das auszuhalten. Die An- und Zugehörigen sind oft sehr dankbar für diese intime Erfahrung, die sie machen können, wenn sie jemanden beim Sterben begleiten. Ich kann das aus eigener Erfahrung, auch von der Begleitung meiner Mutter sagen: Es ist eine bewusstseinserweiternde Erfahrung. Ein Patient hat einmal gefragt: „Kann ich dem Tod entgegengehen oder kommt er von selber?“ Sterben ist keine rein rationale Angelegenheit. Wenn man diesen Weg findet, die Logik eines Menschenlebens mit dem Herzen zu verbinden, dann kann man jeden Tag viel über das Leben lernen.

Welche Fortschritte gibt es in der Palliativforschung?

Eva Katharina Masel: Wir wissen heute viel mehr über symptomlindernde Maßnahmen. Zur Behandlung von Schmerz, Atemnot, Juckreiz oder Übelkeit gibt es sehr gute evidenzbasierte Leitlinien. Ein großes Forschungsthema ist auch die Kommunikation, unter anderem an der Schnittstelle von Onkologie und Palliative Care. Hier läuft bei uns an der Abteilung gerade ein großes Projekt.  Viel Forschung gibt es auch zum Umgang mit Sterbewünschen – nicht immer ist das der Wunsch nach assistiertem Suizid, sondern oft der Wunsch, dass das Leben bald vorbei ist. Oft hilft nicht die logische Frage „Warum wollen Sie sterben?", sondern das „Erzählen Sie mir mehr“: Die sogenannte Narrative Medicine wird immer besser untersucht und verstanden. Ein wichtiges Forschungsgebiet ist die palliative Sedierung bei therapierefraktären Symptomen wie Schmerz oder Atemnot. Die palliative Sedierung intendiert die Symptomlinderung, nicht den Tod. In 15 Jahren Palliativmedizin war ich persönlich noch nie in einer Situation, wo ich dachte, jetzt bräuchte jemand „die Todesspritze“, um es plastisch zu formulieren.

Apropos Kommunikation. Wie lässt sich die Scheu vor dem Tabuthema nehmen?

Mir ist es sehr wichtig, das Wissen, die Kompetenz von Palliative Care sowie unsere Erfahrungen zu verbreiten, unter Kolleg*innen und in die Bevölkerung zu bringen und das Thema Sterben und vor allem den Weg dorthin ins Leben zu holen. Da müssen wir auch den Mut haben, ein bisschen peppiger zu sein, wie wir das mit Comics, Podcasts und modernen Medien versuchen.

Zur Person

Univ.-Prof.in PDin DDr.in Eva Katharina Masel, MSc ist Fachärztin für Innere Medizin mit Spezialisierung in Palliativmedizin. Sie ist Leiterin der Klinischen Abteilung für Palliativmedizin am Allgemeinen Krankenhaus Wien der Medizinischen Universität Wien und hält dort den Lehrstuhl für Palliativmedizin. Sie absolvierte einen Masterlehrgang in Palliative Care und ein PhD-Studium in Mental Health and Behavioural Medicine. Ihre Schwerpunkte liegen in der palliativen Versorgung von Patientinnen und Patienten mit schweren Erkrankungen sowie in der Betreuung von An- und Zugehörigen, im Symptommanagement, in der Behandlung von psychiatrischen Komorbiditäten und psychosozialen Aspekten, im Bereich der Medical Humanities sowie in der Forschung im Bereich der Palliative Care. Sie ist Forschungsgruppenleiterin der Research Group Palliative Care und ist Vorstandsmitglied der Österreichischen Palliativgesellschaft und der Österreichischen Krebshilfe sowie Mitglied nationaler und internationaler Fachgesellschaften.

Fotos: © MedUni Wien/Feelimage

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