Seit 1. Oktober ist Gert Mayer Rektor der Medizinischen Universität Innsbruck. Im Interview spricht er über neue Formen und Inhalte der Lehre, die Diskussion um einen Ärzt*innenmangel und die Zukunft der Versorgung.
Interview: Birgit Kofler
Sie sind seit Anfang Oktober Rektor der Medizinischen Universität Innsbruck. Was sind Ihre wichtigsten strategischen Prioritäten für die kommenden Jahre?
Gert Mayer: Die Aufgaben einer medizinischen Universität sind vielfältig – Lehre, Forschung, Krankenversorgung und auch der Dienst an der Gesellschaft. Ich beginne mit der Lehre. Wir haben ein umfangreiches Lehrangebot und betreuen rund 3.800 Studierende in Humanmedizin, Zahnmedizin, Molekularer Medizin, Pharmaceutical Sciences und mehreren PhD-Programmen. Was und wie wir lehren wird sich in den kommenden Jahren entscheidend verändern. Als ich in den 1980er-Jahren studiert habe, ging es stark um die Vermittlung von Wissen, das war das Fundament für ein ganzes Berufsleben. Heute verändert KI unsere Arbeitsweise fundamental, Wissen ist überall verfügbar. Müssen wir dann wirklich noch detailliertes Wissen lehren oder ist es nicht wichtiger, Meta-Wissen zu vermitteln? Also ein generelles Verständnis und wo und wie man sich vertieftes Wissen aneignet, wie man Quellen findet und bewertet. Was bleibt und im Rahmen des Lernens verstärkt werden muss, ist die Anwendung von Wissen. Auch Soft Skills sind wichtig: Wie kommuniziere ich mit Patient*innen? Interaktion, soziales Verständnis, Empathie – das wird bei allen Entwicklungen im Bereich KI zentral bleiben. Wir werden weiterhin mit den Menschen sprechen müssen, um ihnen helfen zu können.
Wenn die Lehrinhalte sich ändern müssen, gilt das auch für die Formate?
Gert Mayer: Genau, auch die Art der Vermittlung muss sich weiterentwickeln. Klassische Frontalvorlesungen werden zunehmend von interaktiven Formaten abgelöst werden. Wir arbeiten an Konzepten wie Blended Learning oder Flipped Classroom. Es geht um Formate, bei denen sich Studierende Inhalte digital unterstützt vorab aneignen und dann im Hörsaal diskutieren und idealerweise anhand eines praktischen Beispiels anwenden. Das entspricht viel eher der späteren Berufspraxis.
Kommen wir zu Forschung und Krankenversorgung. Was sind in diesen Bereichen Ihre wichtigsten Zielsetzungen?
Gert Mayer: Wir befinden uns gerade in einem Prozess der externen Evaluierung unserer Forschungsschwerpunkte. Es geht darum, bestehende Schwerpunkte zu optimieren und neue zu definieren. Vieles hat sich seit der letzten Schwerpunktsetzung vor zehn bis 15 Jahren verändert, auch hier nicht zuletzt aufgrund von KI. Ist diese möglicherweise eine Klammer zwischen allen Schwerpunkten? Gibt es Bereiche, die sich besonders entwickelt haben und eine stärkere Berücksichtigung verdienen? Das sind wichtige Fragen für eine Neuausrichtung des Profils unserer Universität. Die Universitätsklinik in Innsbruck wiederum hat einen schwierigen Spagat zu bewältigen: Wir müssen bei der Basisversorgung der Bevölkerung mitwirken, andererseits akademische Spitzenmedizin betreiben. Ich betone das, weil es Spitzenmedizin auf jeder Ebene der Versorgung geben kann. Akademische Spitzenmedizin aber bedeutet das Verschmelzen von Forschung und Medizin. Wir wenden den derzeitigen Wissensstand nicht nur an, sondern entwickeln ihn aktiv weiter. Es ist angesichts budgetärer Einschnitte und der Überlastung des Gesundheitssystems nicht einfach, sicherzustellen, dass beides gleichwertig Platz hat.
Sie haben den „Dienst an der Gesellschaft“ angesprochen. Wie können wir uns hier Ihre Prioritäten vorstellen?
Gert Mayer: Wissenschaft muss aus dem Elfenbeinturm hinausgehen. Wir müssen der Bevölkerung besser erklären, was Wissenschaft kann – und auch, was sie nicht kann. Während der Pandemie wurde deutlich, wie sehr sich Wissen auch ständig verändert. Wissenschaft liefert den aktuellen Stand, nicht die endgültige Wahrheit. Wäre diese bekannt müsste man nicht mehr „Wissen schaffen“. Dieses Verständnis zu fördern, ist ein wichtiger Teil unseres Auftrags, um Wissenschaftsskepsis gegenzusteuern. Außerdem wollen wir Forschungsergebnisse verstärkt in die Praxis bringen. Mit unserem MedLifeLab fördern wir Ausgründungen aus der Universität – also vielversprechende Projekte, die gute Aussichten haben, in die Anwendung übergeführt zu werden.
Interaktion, soziales Verständnis, Empathie – das wird bei allen Entwicklungen im Bereich KI zentral bleiben. Wir werden weiterhin mit den Menschen sprechen müssen, um ihnen helfen zu können.
Univ.-Prof. Dr. Gert Mayer
Die MedUni Innsbruck hat als Standort eine besondere Bedeutung für den Westen Österreichs. Welche regionale Verantwortung ergibt sich daraus?
Gert Mayer: Eine große. Wir sind mit 2.500 Mitarbeitenden einer der größten Arbeitgeber Tirols und ein wesentlicher Wirtschaftsfaktor. Aber es geht auch um Bildung und Gesundheitsbewusstsein. Wir gehen in Schulen, erklären, wie das Medizinstudium funktioniert, was der MedAT ist und welche Berufsmöglichkeiten es gibt. Und wir versuchen, durch zahlreiche Präventions- und Fortbildungsveranstaltungen das Gesundheitsbewusstsein der Bevölkerung zu stärken.
Apropos Nachwuchs: Wir diskutieren in Österreich viel über Ärzt*innenmangel. Braucht es mehr Studienplätze oder eine bessere Steuerung?
Gert Mayer: Ich bin überzeugt, es braucht mehr Lenkung statt einer Ausweitung der Studienplätze. Die Zahl der Ärzt*innen in Österreich ist in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich gestiegen. Seit den 1980er Jahren kommen pro Jahrzehnt etwa 9.000 bis 10.000 neue Ärzt*innen in das System. Der eigentliche Engpass liegt bei den Vertragsärzt*innen, während sich die Zahl der Wahlärzt*innen seit 1980 verzehnfacht hat. Ich verstehe, dass das von vielen Menschen als Ärzt*innenmangel erlebt wird. Aber das Problem lässt sich nicht durch mehr Studienplätze lösen. Wir müssen vielmehr überlegen, warum die Kassenmedizin unattraktiv geworden ist, und neue Strukturen schaffen. Ich halte sehr viel von Primärversorgungseinheiten, wo mehrere Berufsgruppen gemeinsam arbeiten: Ärztinnen, Pflege, Sozialarbeit, Physiotherapie. Dort ist die Arbeit flexibler, es ist auch Teilzeitarbeit möglich, und man kann eine bessere Versorgung anbieten.
Können die Medizinuniversitäten dazu beitragen, Mangelfächer wie etwa Pathologie, Kinderpsychiatrie oder Gerichtsmedizin zu stärken?
Gert Mayer: Dass ein Fach zum Mangelfach wird, kann zwei Ursachen haben: Es gibt zu wenig Ausbildungsstellen, oder aber es finden sich keine Bewerber*innen. Die Zahl der Ausbildungsstellen liegt nicht in der Hand der Universitäten, das ist Aufgabe der Träger. Wir als Universitäten können betroffenen Fächern mehr Raum geben, und wir können Studierende für diese Gebiete begeistern. Lehrende können hier oft mehr als jede Imagekampagne ausrichten. Ein Beispiel ist unsere Humangenetik – dort gibt es keine Nachwuchsprobleme, weil ein Kollege lehrt, der außergewöhnlich engagiert und inspirierend ist. Wenn Studierende Vorbilder erleben, prägt das oft ihre Entscheidung.
Ließe sich die Fachärzt*innenausbildung besser organisieren als derzeit?
Gert Mayer: Ja, das halte ich für notwendig. Nicht jedes Spital kann alles ausbilden. Die abgestufte Versorgungsstruktur – von wohnortnaher Basisversorgung bis zur Universitätsklinik – sollte sich auch in der Ausbildung widerspiegeln. Allgemeine Innere Medizin zum Beispiel kann hervorragend in der Peripherie gelernt werden, eine Spezialisierung hingegen an Zentren. Daher plädiere ich für ein Pendelmodell: Ausbildung in der Region, Rotation in die spezialisierten Zentren, dann Rückkehr ins Ursprungsspital. Damit hätte man einen massiven Qualitätsgewinn.
Rektoratsteam im Gespräch
Rektor Univ.-Prof. Dr. Gert Mayer und Vizerektor für Lehre und Studienangelegenheiten ao. Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Prodinger, MME
v.l.n.r. Vizerektor für Lehre und Studienangelegenheiten ao. Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Prodinger, MME, Vizerektorin für Digitalisierung, Finanzen und Nachhaltigkeit Mag.a Dr.in Irene Häntschel-Erhart, Rektor Univ.-Prof. Dr. Gert Mayer, Vizerektorin für Forschung und Internationales Univ.-Prof.in Dr.in Patrizia Stoitzner
Ein Dauerthema ist die Patient*innenlenkung. Universitätsambulanzen sind überlaufen, viele Menschen kommen mit Problemen, die in den niedergelassenen Bereich gehören. Was wäre ein sinnvoller Ansatz?
Gert Mayer: Ich kenne die Situation aus meiner früheren Tätigkeit gut, wir hatten allein auf der Inneren Medizin täglich bis zu 15 Aufnahmen, die über die Notaufnahme kamen. Das bringt die spezialisierte Medizin unter Druck. Ein Teil dieser Fälle müsste nicht stationär behandelt werden, wenn es davor oder danach geeignete Strukturen mit umfassender – auch sozialer – Betreuung gäbe. Vorgelagerte Primärversorgungseinheiten können hier sicher entlasten. Das wäre keine Zugangsbeschränkung, sondern eine strukturierte Verbesserung, die echte Chancen bietet. Gleichzeitig brauchen wir mehr nachgeschaltete Einrichtungen, damit nicht auf hochspezialisierten Spitalsabteilungen Pflegefälle liegen müssen.
Die Medizin wird immer weiblicher. Was bedeutet das für Universitäten und Spitäler?
Gert Mayer: Bei den Erstsemestrigen liegt der Frauenanteil mittlerweile bei fast 60 Prozent – Tendenz weiter steigend. Das ist erfreulich, hat aber auch Konsequenzen. Unter anderem nimmt die Teilzeitbeschäftigung zu, und darauf muss sich der Medizinbetrieb einstellen. Teilzeitmodelle müssen in die Dienstplanung stärker integriert werden, wir müssen aber auch überlegen, wie Ausbildung in Teilzeit funktionieren kann. Ein anderer Aspekt: An den Universitäten etablieren wir zunehmend das Double-Career-Modell: Bei Berufungen ist das inzwischen ein wichtiger Punkt, Partnerinnen oder Partner und deren Beschäftigungsoptionen mitzuberücksichtigen.
Nach vielen Jahren als Klinikdirektor wechseln Sie ins Rektorat. Was reizt Sie an dieser Aufgabe – und was wird Ihnen fehlen?
Gert Mayer: Reizvoll ist die Breite. Eine Universität ist ein hochkomplexer Betrieb mit Lehre, Forschung, Administration. Ich war ja als langjähriger Senatsvorsitzender schon mit den Abläufen vertraut. Jetzt Verantwortung für das Ganze zu tragen, ist fordernd, aber unglaublich interessant. Fehlen wird mir die Medizin und der unmittelbare Patient*innenkontakt. Arzt war mein Traumberuf. Es gibt nichts, was mit dem vergleichbar ist, Menschen in schwierigen Situationen zu helfen. Diese Begegnungen, die Dankbarkeit – etwas Besseres gibt es nicht.
Univ.-Prof. Dr. Gert Mayer ist seit Oktober 2024 Rektor der Medizinischen Universität Innsbruck. Zuvor war er unter anderem Senatsvorsitzender dieser Universität. Der gebürtige Niederösterreicher absolvierte nach seinem Studium an der Universität Wien zunächst die Facharztausbildung für Innere Medizin (Additivfacharzt für Nephrologie) am AKH Wien und forschte anschließend, ausgestattet mit einem Max Kade Stipendium der ÖAW an der Stanford University (USA). Gert Mayer ist Past President der Österreichischen Gesellschaft Innere Medizin, Nephrologie, Hypertensiologie und Past Council Member der European Renal Association – European Dialysis and Transplant Association (EDTA ERA). Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehörten chronische Nierenerkrankungen, Systembiologie und computational disease modelling.
Fotos: Med Uni Innsbruck/Florian Lechner; Titelbild Gert Mayer; Porträtbild: Gert Mayer; Fotogalerie Bild 1: Rektoratsteam im Gespräch; Fotogalerie Bild 2: Rektor Univ.-Prof. Dr. Gert Mayer und Vizerektor für Lehre und Studienangelegenheiten ao. Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Prodinger, MME; Fotogalerie Bild 3: v.l.n.r. Vizerektor für Lehre und Studienangelegenheiten ao. Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Prodinger, MME, Vizerektorin für Digitalisierung, Finanzen und Nachhaltigkeit Mag.a Dr.in Irene Häntschel-Erhart, Rektor Univ.-Prof. Dr. Gert Mayer, Vizerektorin für Forschung und Internationales Univ.-Prof.in Dr.in Patrizia Stoitzner