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Herausforderungen bei Gehirnimplantaten

Aktuelles

Biomedizintechniker Stanisa Raspopovic möchte für ethische und wissenschaftliche Fragen sensibilisieren, die durch die neuesten Fortschritte im Bereich der Hirnimplantate aufgeworfen werden.

Interview: Birgit Weilguni

Was ist das Besondere an den jüngsten Entwicklungen in der Neuroprothetik?

Stanisa Raspopovic: Sie verwenden neuronale Schnittstellen, die direkt mit Teilen des menschlichen Nervensystems kommunizieren: dem Gehirn, dem Rückenmark oder peripheren Nerven. Sie haben das Potenzial, Patient*innen mit schwersten neurologischen Problemen wie Rückenmarksverletzungen, Schlaganfall, Sklerose, Blindheit, Parkinson und anderen zu helfen. Derzeit gibt es viele neue Forschungsarbeiten, zahlreiche klinische Entwicklungen und Unternehmen, die Produkte auf den Markt bringen – und ein großes Interesse an diesem Bereich. In letzter Zeit gab es intensive wissenschaftliche Debatten darüber, was eine Gehirn-Computer-Schnittstelle ist. Eine der jüngsten Veröffentlichungen zu diesem Thema stammt von zwei meiner Kollegen und mir. Wir möchten das Verständnis für die ethischen und technischen Anforderungen dieser neuartigen klinischen Studien verbessern.

Was genau ist Ihr Anliegen?

Stanisa Raspopovic: Die Entwicklungen in diesem Bereich schreiten rasch voran, aber die wissenschaftlichen und ethischen Debatten hinken hinterher.

Welche Gefahren des Missbrauchs sehen Sie?

Stanisa Raspopovic: Während in Europa und den USA dank sehr klar definierter Vorschriften die Grundregeln eingehalten werden, ergeben sich aus der Einzigartigkeit dieser neuartigen Geräte neue Aspekte, die bei den Patient*innen zu neuen subjektiven Erfahrungen führen. Auch im Hinblick auf den Datenschutz gibt es Herausforderungen: Da wir Daten direkt mit dem Nervensystem austauschen, müssen wir sehr sorgfältig darauf achten, diese zu verschlüsseln und zu schützen, damit kein Datenmissbrauch erfolgen kann. Viele dieser Systeme enthalten Elemente künstlicher Intelligenz. Wir verwenden KI häufig zur Kalibrierung und Feinabstimmung der Geräte, müssen jedoch sehr darauf achten, dass die KI erklärbar ist, das heißt, dass der Zusammenhang zwischen Eingabe und Ausgabe sowohl für die Anwender*innen als auch für die Ärzt*innen klar ist. Bei der Implementierung der drahtlosen Kommunikation müssen wir sehr vorsichtig sein. Die Datensicherheit ist daher ein zentrales Thema.

Könnten auch die Kosten und damit die Verfügbarkeit für alle Menschen zum Problem werden?

Stanisa Raspopovic: Auf jeden Fall. Wenn man skaliert und es mehr Nutzer*innen gibt, werden auch die Produktion und der Support günstiger, was sich wiederum auf die Kosten für die Nutzer*innen auswirkt. Hier muss durch die Gesundheitspolitik festgelegt werden, was sich lohnt und auf welcher Ebene. Ein weiterer wirtschaftlicher Aspekt ist, dass diese neuen Geräte oft Patient*innen mit schwersten neurologischen Erkrankungen helfen, aber manchmal gehen Unternehmen nach der Implantation in Konkurs. So ist beispielsweise das Unternehmen, das blinden Menschen geholfen hat, ihr Augenlicht wiederzuerlangen, insolvent, und die Nutzer*innen können die Geräte nicht mehr verwenden, warten oder instandhalten. Wir müssen darüber diskutieren, welche Möglichkeiten wir haben, um Patient*innen zu versorgen, die bereits Implantate haben. Einige Ideen könnten ein sicherer Hedgefonds, eine Versicherung oder die Übernahme der Versorgung dieser Patient*innen durch den Staat sein.

Stanisa Raspopovic

Die Entwicklungen in diesem Bereich schreiten rasch voran, aber die wissenschaftlichen und ethischen Debatten hinken hinterher.

Univ.-Prof. Dr. Stanisa Raspopovic

Professor für Biomedizinische Technik am Zentrum für Medizinische Physik und Biomedizinische Technik der Medizinischen Universität Wien

Im Vergleich zu anderen Ländern, vor allem den USA – wie weit sind Österreich und die EU bei der Forschung an neuronalen Implantaten fortgeschritten?

Stanisa Raspopovic: Die USA sind führend in der Forschung zu neuronalen Prothesen, da die meisten Hirnimplantate und viele der peripheren Implantate in den USA hergestellt werden. Europa liegt jedoch nicht weit zurück. Wir haben hervorragende Ergebnisse mit Wirbelsäulenimplantaten in der Schweiz und in Italien und sehr gute Ergebnisse bei peripheren Schnittstellen in Italien, Österreich und Deutschland. Leider tritt das größte Problem auf, wenn die Forschung an ein Unternehmen übertragen werden muss. Hier sind uns die Amerikaner*innen weit voraus. Wir haben hervorragende Chirurg*innen und Forschungsteams, die in Europa Spitzenergebnisse erzielen, aber nur wenige Möglichkeiten für Unternehmen, Produkte auf den Markt zu bringen. In den USA florieren Unternehmen für neuronale Schnittstellen – die großen Akteure verfügen über Finanzmittel in Höhe von Hunderten von Millionen Dollar und versorgen viele Patient*innen mit Implantaten, darunter Neuralink, Synchron, Paradromics, Blackrock Neurotech oder Precision Neuroscience und viele andere. In Europa hingegen gibt es nur wenige Unternehmen in diesem Bereich: ONWARD Medical aus den Niederlanden für spinale Schnittstellen, Brain Neuroelectronics aus Spanien für Schnittstellen im Gehirn und CorTec Neuro aus Deutschland für Gehirn- und periphere Schnittstellen, allerdings mit deutlich geringeren Finanzmitteln und weniger Patient*innentests.

Was ist der Grund für diese Entwicklung?

Stanisa Raspopovic: In der EU haben wir sehr strenge, überbürokratische Gesetze, die den Markteintritt deutlich erschweren. Insbesondere die Medizinprodukteverordnung ist für Unternehmen kompliziert zu handhaben. Der zweite Grund ist, dass wir in Europa keine risikoreichen Finanzierungen fördern. Während in den USA und China große Summen für sehr riskante Projekte in der Neurotechnologie bereitgestellt werden, ist dies in Europa eher selten der Fall. Und drittens denkt das alte Ökosystem, von der Forschung bis zur Umsetzung, nicht viel darüber nach, wie man ein Unternehmen gründet, um ein Produkt auf den Markt zu bringen. Wir hören oft, dass dies zu kompliziert sei. Zusammenfassend lässt sich sagen: In der Forschung liegen wir nicht weit hinter den USA zurück, aber auf Unternehmensebene gibt es aufgrund der Bürokratie und des Mangels an risikofreudigen Investitionen einen großen Unterschied. Diese Projekte sind sehr Hardware-orientiert und auf Medizintechnik ausgerichtet. Außerdem gibt es die weit verbreitete Meinung, dass es einfacher ist, in Software oder etwas Einfacheres zu investieren, aber das ist nicht der Weg, um Spitzentechnologie zu entwickeln. Aus diesem Grund weichen die meisten Neurotech-Unternehmen aus Europa in die Vereinigten Staaten aus.

Ist der ethische Rahmen, in dem sich Tests am Menschen bewegen, in Österreich klar abgesteckt?

Stanisa Raspopovic: Österreich hat äußerst strenge Ethikregeln. Ein Beispiel: Wenn Sie ein sehr einfaches Gerät wie die Elektrostimulation ausprobieren möchten, müssen Sie fast dieselben strengen Auflagen erfüllen wie bei der Stimulation des Gehirns von innen mit Implantaten. In der EU sollten wir wahrscheinlich darüber nachdenken, die Vorschriften etwas zu lockern. Das würde Unternehmen helfen, die Entwicklungszeit für Geräte zu verkürzen. Diese Fragen sind jedoch für bereits existierende Implantate wie Cochlea-Implantate oder die Tiefe Hirnstimulation geklärt. Die Vorschriften in der EU sind sehr streng – und wir sind sehr gut darin, die Menschenrechte und die Unversehrtheit des Menschen zu achten. Ich finde diesen Ansatz im Übrigen großartig. In unserer Publikation beziehen wir uns hauptsächlich auf neuartige Technologien. Wir wollen verstehen, welche neuen Risiken mit den neuen Arten von Geräten verbunden sind, die es noch nicht gibt, damit wir diesen Risiken entsprechend begegnen können.

Welche Maßnahmen schlagen Sie vor, um den Herausforderungen zu begegnen?

Stanisa Raspopovic: Mein Kollege Marcello Ienca aus Deutschland, einer meiner Koautoren, ist ein weltweit anerkannter Experte für Neuroethik und Neurorechte. Der andere, Giacomo Valle aus Schweden, verfügt über umfangreiche Erfahrungen mit Hirnimplantaten, und ich habe Erfahrung mit peripheren Implantaten. Wir sind der Meinung, dass Ethiker*innen, Gesetzgeber*innen, Techniker*innen und Ärzt*innen miteinander kommunizieren sollten, um Formeln zu entwickeln, die alle Risiken berücksichtigen. Wir sind außerdem der Meinung, dass wir die subjektiven Empfindungen der Patient*innen berücksichtigen sollten: Akzeptanz, Körpergefühl in Bezug auf die Geräte, Gefühl der Selbstbestimmung über die Geräte, einfache Messungen der persönlichen Zufriedenheit, neben den üblichen klinischen Messungen zur Wirksamkeit und Sicherheit, die beibehalten werden müssen.

Was können wir in naher Zukunft von neuronalen Implantaten erwarten?

Stanisa Raspopovic: In der Schweiz, Italien und den Vereinigten Staaten gibt es zahlreiche intensive Bemühungen zur Entwicklung neuronaler Schnittstellen für das Gehen und Greifen nach Rückenmarksverletzungen. Es gibt neuronale Schnittstellen zur Stimulation nach einem Schlaganfall, die Menschen helfen, Kraft und Fähigkeiten wiederzuerlangen. Es gibt periphere Implantate, die Amputierten, sowohl der oberen als auch der unteren Gliedmaßen, helfen, eine Verbindung zu ihren Nerven und Muskeln herzustellen. Es passieren viele Dinge parallel, und alle nutzen die Tatsache, dass wir mehrere sichere und effiziente neuronale Schnittstellen entwickelt haben. Wir verfügen über ausgereifte Algorithmen für maschinelles Lernen und künstliche Intelligenz. Durch die Kombination all dieser Technologien können wir einen nie dagewesenen Fortschritt für die menschliche Gesundheit erzielen. Ich denke, dass wir in Zukunft immer mehr KI in diesen Systemen einsetzen werden, da dies ein leicht zu erreichendes Ziel und eine sinnvolle Fortsetzung der bisherigen Bemühungen ist.

Zur Person

Stanisa Raspopovic studierte Biomedizinische Technik an der Universität Pisa und promovierte an der Scuola Superiore Sant’Anna (SSSA) in Pisa. Anschließend arbeitete er als leitender Wissenschaftler an der Ecole Polytechnique Federale de Lausanne (Schweiz) und als CTO bei SensArs Neuroprosthetics in St. Suplice, Schweiz. Von 2018 bis 2024 war er Assistenzprofessor an der Eidgenössischen Technischen Hochschule ETH Zürich. Seit Juli 2024 ist Raspopovic ordentlicher Professor für Biomedizinische Technik am Zentrum für Medizinische Physik und Biomedizinische Technik der Medizinischen Universität Wien.

Publikation: Marcello Ienca, Giacomo Valle, Stanisa Raspopovic. Clinical trials for implantable neural prostheses: understanding the ethical and technical requirements. In: The Lancet Digital Health, https://www.thelancet.com/journals/landig/article/PIIS2589-7500(24)00222-X/fulltext

Fotos: Titelbild © Meduni Vienna/feelimage; Expertenbild © ETH Zürich.

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