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Gesundheit
Österreich
17.01.2023

Im weißen Kittel steckt ein Mensch

Kritische klinische Ereignisse, langandauernde Überlastung und eigene oder systemimmanente Fehler können Ärzt*innen und Pflegende nachhaltig traumatisieren. Der Verein Second Victim warnt davor, die psychisch belastenden Seiten des Berufs zu ignorieren, und stellt spezifische Hilfsangebote zur Verfügung. Gründungsmitglied Barbara Sitter, Intensivmedizinerin in einem Wiener Spital, erklärt im Gespräch mit INGO, warum das so genannte Second-Victim-Phänomen alles andere als selten ist und mit welchen Strategien man ihm präventiv begegnen kann.

Frau Dr. Sitter, was ist ein Second Victim?

Barbara Sitter: Wenn etwas Schwerwiegendes passiert, etwa ein Unfall, ist das Opfer natürlich der oder die Betroffene. So ein Vorfall geht aber auch an den Helfenden nicht spurlos vorüber. Wir bezeichnen Mitarbeiter*innen im Gesundheitswesen, die durch einen unvorhergesehenen schweren Zwischenfall, einen folgenreichen Fehler oder einen Beinahe-Fehler schwer belastet oder gar traumatisiert worden sind, als Second Victim. Sie sind sozusagen die zweiten Opfer des Ereignisses, denn sie nehmen es oft mit nach Hause und können in der Folge selbst in eine Krise geraten. 

Wie häufig kommt das vor?

Wer im Gesundheitssektor arbeitet, wird zumindest einmal im Verlauf des Berufslebens ein Erlebnis haben, das er oder sie nicht so einfach wegstecken kann. Das gilt als eine Art Faustregel. Es ist nicht die Frage, ob das passiert, sondern wann. Welches Ereignis als derart belastend empfunden wird, ist allerdings nicht vorhersehbar, denn da spielen individuelle Faktoren eine Rolle. 

Sind emotionale Belastungen immer mit einem Fehler verbunden?

Nein. In Gesundheitsberufen sind es oft auch Alltagsgeschichten, die einem zusetzen können. Fordernde Angehörige zum Beispiel, die das Team mit Vorwürfen überhäufen. Ein rauher Umgangston unter Kolleg*innen in Akutsituationen, speziell wenn er hierarchisch motiviert ist. Nicht selten gibt es Tränen, wenn etwa OP-Assistent*innen von Operateur*innen im Stress angeschrien werden. Das verletzt nicht nur, sondern hinterlässt auch große Selbstzweifel. 

Die Pandemie war zeitweise auch auf emotionaler Ebene eine Herausforderung: Wir waren in den Spitälern mit extremer Überlastung und einer außergewöhnlichen Häufung schwerer Verläufe konfrontiert. Dazu kam, dass die Umstände es oft nicht erlaubten, Verwandte von ihren sterbenden Familienmitgliedern Abschied nehmen zu lassen. Es kann außerdem schockierend sein, wenn man glaubt, ein Patient oder eine Patientin ist über dem Berg und dann verschlechtert sich sein oder ihr Zustand plötzlich und die Person verstirbt. Nicht von ungefähr haben wir den Verein Second Victim mitten in der Pandemie gegründet. Die Second-Victim-Problematik gibt es zwar nicht erst seitdem, aber wir fanden es an der Zeit, darauf aufmerksam zu machen, dass man die psychisch belastenden Seiten des Berufs nicht stillschweigend hinnehmen muss, sondern unbedingt Unterstützung und Hilfe bekommen sollte. Und dass das kein Zeichen von Schwäche, sondern angemessen ist. Für ein reibungsloses Funktionieren des Systems ist es sogar essenziell.

Die Konfrontation mit Schmerz, Leid und Tod gehört für Ärzt*innen und Pflegende zum Alltag. Warum glauben so viele Menschen, dass diese das nicht berührt? Oder dass sie zum Beispiel die im Gesundheitswesen typischen langen, oft unregelmäßigen Arbeitszeiten, die Schichtdienste und den Zeitdruck bei gleichzeitig hoher Verantwortung immer locker verkraften?

Das ist eben die Kultur, in der wir feststecken. Helfende müssen immer stark sein, Erschöpfung und Emotionen sind tabu. Im Gesundheitswesen hält sich dieses Rollenbild besonders hartnäckig, nicht nur in den Augen der Außenwelt, auch die Mitarbeiter*innen selbst haben es internalisiert. Ärzt*innen gelten immer noch so ein bisschen als Gött*innen in Weiß, die alles aushalten müssen, Pflegende als unverwüstliche Felsen in der Brandung. Wer das nicht leisten könne, solle eben einen anderen Beruf ergreifen, heißt es da schnell. Dieses Image wird der Realität aber nicht gerecht. Burnout, Depressionen, Panikattacken und dergleichen treten bei Gesundheitsberufen relativ häufig auf, und zwar vielfach als Folge berufsspezifischer Arbeitsbedingungen. Zugleich fehlt noch weitgehend das Bewusstsein, dass man gerade in einem solchen Beruf auch auf sich selbst achten muss. Oder dass zum Beispiel ein rauher Umgangston nicht normal sein sollte und dass man ein Anrecht auf menschliche Reaktionen, Unterstützung und Respekt hat.  

"Burnout, Depressionen, Panikattacken und dergleichen treten bei Gesundheitsberufen relativ häufig auf, und zwar vielfach als Folge berufsspezifischer Arbeitsbedingungen."

Braucht es in der Arbeit mit und an Menschen, die sich in gesundheitlichen, mitunter sogar existenziellen Ausnahmesituationen befinden, nicht eine gewisse Grundresilienz? Ab wann läuft man Gefahr, dadurch selbst Traumatisierungen zu erleiden?

Natürlich braucht es eine gewisse Grundresilienz, aber die ist individuell verschieden. Im Prinzip entwickeln die meisten Angehörigen von Gesundheitsberufen ihre eigenen Mechanismen, um mit den Belastungen des Alltags umzugehen. Es gibt allerdings Symptome, die darauf hinweisen, dass sich eine Depression, ein Burnout oder gar eine posttraumatische Belastungsstörung anbahnt. Dazu zählen innere Leere, sozialer Rückzug, Schlafstörungen, Albträume, Panikattacken, Schuldgefühle, Verlust des Glaubens in die eigenen Fähigkeiten, Substanzmissbrauch. Solche Anzeichen sollte man keinesfalls übergehen, spätestens wenn einem etwas länger als eine Woche den Schlaf raubt, sollte man hellhörig werden. Denn je früher man sich Hilfe sucht, desto besser lässt sich eine Chronifizierung der Beschwerden vermeiden. Das ist übrigens auch für die Arbeitgeber*innen von Interesse, denn am Ende steht oft der Berufsausstieg.

Ein Slogan des Vereins Second Victim ist „Mensch bleiben, kein Opfer werden“ … 

Den Slogan haben wir gewählt, um darauf hinzuweisen, dass wir auch Menschen sind. Zynismus als Abwehrstrategie nützt niemandem, weder einem selbst noch den Menschen, mit denen man es zu tun hat.

In den letzten Jahren hat man öfter davon gehört, dass Patient*innen und Angehörige zunehmend rabiat gegen Gesundheitspersonal vorgehen. Ist das auch ein Aspekt, mit dem sich der Verein befasst?

Es gibt relativ viele Befragungen zum Thema Gewalt im Krankenhaus, und die Zahlen dieser Vorfälle sind wirklich alarmierend. In einer rezenten Erhebung zum Beispiel gaben 60 bis 80 Prozent der befragten Mitarbeiter*innen an, im letzten halben Jahr etwas Derartiges erlebt zu haben. Das fällt sicherlich auch in die Reihe der belastenden Ereignisse, denen wir begegnen wollen, und hat somit einen gewissen Stellenwert auf unserer Agenda. Bei der Ringvorlesung „Eine von fünf“ der Medizinischen Universität Wien über die Konfrontation von medizinischem Personal mit Gewalt und Aggression habe ich zum Beispiel den Second-Victim-Aspekt in einem Vortrag eingebracht.

Was kann man gegen Second-Victim-Symptome tun?

Hierzu gibt es bereits gute Studien, vor allem aus dem angloamerikanischen Raum. Eine Orientierung bietet etwa das Drei-Stufen-Modell nach Scott et al.* zur Verhinderung von Second-Victim-Traumatisierungen. Wie viele Stufen man braucht, hängt vom individuellen Bedarf ab. Der erste Schritt ist auf jeden Fall die kollegiale Unterstützung auf der Station: einfach dass man hinterher noch kurz über einen Vorfall reden kann und die Belastungssituation als solche anerkannt und nicht weggewischt wird. Fehler sollen nicht einander zugeschanzt, sondern analysiert werden. Schon eine kurze Klärung kann viele Unsicherheiten ausräumen und somit ausreichend sein. Stufe zwei ist eine niederschwellige Krisenintervention unter Hinzuziehung von Spezialist*innen, ein so genanntes Debriefing. Dabei kann man auch herausfinden, ob eine weitergehende professionelle Unterstützung – etwa im Rahmen eines externen Netzwerks – erforderlich ist. Das wäre dann die Stufe drei. 

Schaubild

Unser Verein fordert die Einführung fixer Strukturen, durch die so ein Vorgehen automatisch in die Krankenhausroutine eingebaut wird, sowie Regelungen zur Inanspruchnahme von Freizeit nach einem kritischen Ereignis, um das Geschehene verarbeiten zu können. Außerdem plädieren wir für ein Peer-System in den Spitälern. Bei der Feuerwehr und der Rettung ist dies schon etabliert, in Wien gibt es das bereits in zwei Krankenhäusern und soll ausgeweitet werden. Das Peer-Prinzip sieht vor, dass Mitarbeiter*innen freiwillig eine entsprechende Schulung absolvieren und dann intern eine erste Anlaufstelle für Kolleg*innen nach einem kritischen Vorfall sind. Ein vorgegebenes Protokoll hilft bei der Reflexion des Ereignisses, am Ende entscheiden Peer und Betroffene*r gemeinsam, ob weitere Unterstützung nötig ist. Die Verfügbarkeit von Peers hat sich als äußerst effizient erwiesen und sollte in Österreich flächendeckend zur Verfügung stehen. Und natürlich gehören die Second-Victim-Problematik und ein adäquater Umgang mit den psychischen Belastungen des Berufs verstärkt in die Ausbildungen hinein, sowohl in jene der Ärzt*innen als auch jene der Pflegeberufe und Krankenhausmanager*innen. Nicht zuletzt kommt eine verstärkte Aufmerksamkeit für das Thema Ärzt*innengesundheit der Patient*innensicherheit zugute. 

Warum ist es wichtig, dass auch arbeitgeberunabhängige psychologische Hilfe, zum Beispiel Psychotherapie, zur Verfügung steht?

Aus Befragungen weiß man, dass sich etwa 60 Prozent der Kolleg*innen nach kritischen Vorfällen zunächst eine Unterstützung aus den eigenen Reihen wünschen. Wenn das nicht ausreicht, möchten die meisten, also über 65 Prozent, psychologische Hilfe von außerhalb des Systems. 

Wenn ich mich in Wien umschaue, sehe ich, dass zumindest hier bereits etliche Institutionen recht gute Hilfsmöglichkeiten anbieten. Der Wunsch nach Unterstützung von außerhalb der Organisation besteht aber trotzdem. Ich glaube, dass es beides geben muss, sodass jeder und jede das für sich Passende finden kann. Natürlich garantieren auch die im eigenen Haus angestellten Psycholog*innen Anonymität, doch viele Second-Victim-Betroffene haben ein komisches Gefühl dabei. Vor allem in kleinen Spitälern sind das oft die Psycholog*innen, die die Patient*innen betreuen und die man von der Station gut kennt. Das vergrößert die Hemmschwelle. Man darf nicht vergessen, dass gerade die bis jetzt vorherrschende Anspruchshaltung der Gesundheitsberufe, immer stark sein zu müssen, in solchen Situationen auch Scham auslöst. Manche können sich leichter darüber hinwegsetzen, andere jedoch wollen partout nicht, dass das jemand im Spital mitbekommt. Das gilt es zu respektieren.

Welche konkreten Angebote hat der Verein Second Victim für betroffene Kolleg*innen? 

Wir helfen allen Mitarbeiter*innen im Gesundheitswesen – egal ob Mediziner*innen, Hebammen, Physiotherapeut*innen, Pflegende oder andere Gesundheitsberufe und unabhängig davon, ob sie intramural oder extramural tätig sind – anonym, arbeitgeberunabhängig und unbürokratisch. Einerseits durch unser Krisentelefon, das immer montags von neun bis elf Uhr und donnerstags von 17 bis 19 Uhr kostenfrei zur Verfügung steht. Am anderen Ende der Leitung sitzen ausgebildete Berater*innen und Psycholog*innen, mit denen man belastende Ereignisse besprechen kann und die über weiterführende Hilfsmöglichkeiten gut Bescheid wissen. Man kann uns aber auch per E-Mail kontaktieren und erhält innerhalb von 24 Stunden Antwort. Alle Kontaktmöglichkeiten und Informationen finden sich unter https://www.secondvictim.at/. Zum anderen haben wir, obwohl wir ehrenamtlich arbeiten und uns über Mitgliedsbeiträge und Spenden finanzieren, inzwischen genug Mittel, um jedem und jeder Betroffenen bis zu zehn Therapieeinheiten bei niedergelassenen Psychotherapeut*innen oder Psycholog*innen zu bezahlen. Außerdem bieten wir Seminare und Fortbildungen an, von denen die Hälfte kostenfrei ist. Da geht es beispielsweise um die Themen Konfiktmanagement, Stärkung der Resilienz, Methoden zum Stressabbau. Die Einkünfte aus der zahlungspflichtigen Hälfte der Veranstaltungen stützen ebenfalls die Aktivitäten des Vereins. Viel Energie stecken wir außerdem in Medienarbeit, um die Awareness für die Second-Victim-Problematik zu heben. 

Wie viel Zuspruch erhält der Verein?

Unsere Angebote werden sehr gut angenommen und ich finde, dass wir in den eineinhalb Jahren unseres Bestehens schon viel erreicht haben. Unsere Mitgliederzahl hat sich verdoppelt, wir können die zuvor genannten Hilfsangebote finanzieren, beteiligen uns an Veranstaltungen und Aktionstagen, konnten diverse Kooperationen herstellen und mit unserer Fortbildungsschiene geht es stetig voran. Für die Zukunft schweben uns auch Forschungsprojekte vor.

Warum engagieren Sie sich bei Second Victim? Gab es da ein Schlüsselerlebnis? 

Als Ärztin an einer Intensivstation gab es in der Pandemie durchaus einige Erlebnisse, die mich persönlich mitgenommen haben. Im Grunde resultiert meine Motivation aber aus der Summe meiner Erfahrungen als Medizinerin. Ich sehe immer wieder, welchen Unterschied ein gutes Team und eine gute Kommunikationskultur machen. Kommunikation ist der Schlüssel zum Erfolg in Akutsituationen. Ich möchte mithelfen, dass sich das durchsetzt und die Institutionen viel mehr an ihren Unternehmenskulturen arbeiten und eine standardisierte Unterstützung etablieren. In diesem Sinne dient unsere Arbeit dem ganzen Gesundheitssystem.

Was ist Ihre persönliche Strategie, um kritische Ereignisse zu verarbeiten?

Meine Strategie sind Gartenarbeit, Gespräche mit Kolleg*innen und – wenn das nicht hilft – Supervision.

Interview: Uschi Sorz; Fotos: privat, www.depositphotos.com

 

*Quelle: Strametz R, Raspe M, Ettl B, Huf W, Pitz A (2020): Handlungsempfehlung zu Stärkung der Resilienz von Behandelnden und Umgang mit Second Victims im Rahmen der Covid‐19‐Pandemie zur Sicherung der Leistungsfähigkeit des Gesundheitswesens. Aktionsbündnis Patientensicherheit, Plattform Patientensicherheit [Hrsg.]. DOI: 10.21960/202003 

Barbara Sitter, Dr.

Vorstandsmitglied des Vereins Second Victim

Sitter studierte Humanmedizin an der Medizinischen Universität Wien und absolvierte ihre Facharztausbildung in Anästhesie und Intensivmedizin am AKH Wien. Sie ist bereichsleitende Oberärztin an der Intensivstation der Klinik Floridsdorf. Sie ist außerdem Gründungs- und Vorstandsmitglied des Vereins Second Victim, der auf eine Initiative der Ärztin Eva Potura zurückgeht. 

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