Diagnosecodes: Schlüssel zur effektiven Behandlung
Die systematische Erfassung von Diagnosecodes unterstützt Ärzt*innen dabei, effektive Therapiepläne für ihre Patient*innen zu erstellen und hilft der Forschung, anhand der Datenanalyse die Entwicklung moderner Präventions- und Behandlungsstrategien voranzutreiben. Im Interview mit INGO erzählt Andreas Huss, stellvertretender Obmann der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK), warum er noch heuer eine verpflichtende Diagnosecodierung für Mediziner*innen einführen will.
Herr Huss, welche Vorteile hat die digitale Erfassung von Erkrankungen mithilfe von Diagnosecodes?
So wie es im klinischen Bereich eine durchgängige Erfassung von Krankheitsbildern gibt, muss diese Information auch im niedergelassenen Bereich verfügbar sein. Durch die abgeleiteten Daten kann man problematische Entwicklungen bei Krankheitsbildern früher und besser identifizieren. Für die Versicherten können wir dadurch schneller und zielgenauer die notwendigen Schwerpunkte in der Weiterentwicklung des Versorgungssystems setzen. Mit dieser Art der Steuerung haben wir die Möglichkeit, die Qualität der Versorgung für die Versicherten diagnosebezogen sicherzustellen.
Warum hat sich die Ärztekammer bisher dagegen gewehrt?
Die Ärztekammer hat sich bisher dagegen verwehrt, weil anscheinend die Angst besteht, dass Behandlungsungenauigkeiten oder Versäumnisse besser nachvollzogen werden können, zum Beispiel bei chronischen Krankheiten. Das Wohl der Patient*innen war da nicht im Fokus der Interessenvertretung der Ärzt*innen.
"Für alle im System Tätigen stellt die Diagnosen-Dokumentation auch eine Sicherheit bei möglicherweise auftretenden juristischen Fragestellungen dar."
Ein Hindernis ist auch die Finanzierung. Wie ließe sich dieses Problem lösen?
Im Zuge der Verhandlungen zum einheitlichen Leistungskatalog und dem österreichweiten Gesamtvertrag der ÖGK mit der Ärztekammer kann das Thema durchaus gut eingebettet werden. Die letzten Gespräche dazu sind mit der Ärztekammer bereits sehr positiv verlaufen, so dass ich zuversichtlich bin, die Diagnosecodierung bald in trockenen Tüchern zu haben. Darüber hinaus ist es mittlerweile selbstverständlich, dass Patient*innen alle erhaltenen Leistungen dokumentiert bekommen - inklusive der Information, welche Hilfsmittel dazu verwendet wurden. Für alle im System Tätigen stellt die Diagnosen-Dokumentation auch eine Sicherheit bei möglicherweise auftretenden juristischen Fragestellungen dar.
Welche rechtlichen Konsequenzen könnten denn entstehen, wenn Diagnosecodes nicht sorgfältig dokumentiert werden?
Wir sind noch nicht so weit, darüber zu diskutieren, aber es muss schon im gemeinsamen Interesse sämtlicher Leistungserbringer*innen sichergestellt werden, dass die Qualitätskriterien eingehalten werden. Mit dem Blick auf den europäischen Gesundheitsdatenraum gilt es, dass alle dazu beitragen, die Qualität sicherzustellen, damit Österreich seinen Platz im europäischen Orchester der medizinischen Versorgung einnehmen kann. Wir wollen die Ärzt*innen auch möglichst gut dabei unterstützen und werden dazu auch einen spezifischen Thesaurus entwickeln, um die korrekte Codierung zu erleichtern.
Eine Schwierigkeit besteht in den verschiedenen internationalen Codierungssystemen. Welche Technologie und automatisierte Systeme sollten in Österreich zum Einsatz kommen?
Hier müssen wir aufmerksam hinsichtlich der Entwicklungen auf EU-Ebene sein. Der europäische Gesundheitsdatenraum ist gerade in Verhandlung und am Entstehen. Die Notwendigkeiten und Systeme, die hier als Leitsysteme definiert werden, sollten auch die Anleitung für unsere Bestrebungen darstellen. So können wir die Integration in den europäischen Gesundheitsraum mit Datenaustausch zwischen den Systemen für alle europäischen Bürger*innen verbessern. Hier könnte uns tatsächlich ein Quantensprung gelingen.
Welche besonderen Herausforderungen stellen bei der Dokumentation von Diagnosecodes die bestimmten Spezialgebiete oder Fachdisziplinen dar?
Die Herausforderung ist vor allem, ein schlüssiges Codierungssystem verfügbar zu haben, das von allen Teilnehmer*innen im System auf dem gleichen qualitativen Niveau verwendet wird. Bei der Einführung der Diagnosecodierung in den Krankenhäusern hat es auch eine gewisse Zeit gedauert, bis eine verlässliche Qualität der Codierung erreicht war.
Welche Auswirkungen hat die Verpflichtung zur Dokumentation von Diagnosecodes auf das Patientenmanagement und die Patientenversorgung?
Ich denke, hier gibt es das größte Verbesserungspotential bei den chronischen Krankheiten, die einer kontinuierlichen Versorgung bedürfen. Wir wissen, dass wir in Österreich aufgrund der schlechten Übersichtlichkeit des Systems Schwierigkeiten haben. So gibt es in der Versorgung von Diabetikern noch viel Luft nach oben. Zwar besteht schon seit Längerem das Disease Management Programm „Therapie aktiv“ für Diabetiker*innen, aber die Teilnahme der niedergelassenen Ärzt*innen an dem Programm ist außerhalb der Primärversorgungszentren nicht verpflichtend. Daher haben wir in dem Bereich noch sehr große Lücken, die mit einer verpflichtenden Diagnosecodierung und einem echten Versorgungsauftrag für die niedergelassenen Ärzt*innen, ähnlich der Leistungsmatrix für Primärversorgungszentren, geschlossen werden könnten.
In welchen Ländern wird dies schon in der Praxis erfolgreich umgesetzt und welche Vorteile sind klar erkennbar?
In den Diskussionen zum Europäischen Gesundheitsdatenraum wird immer wieder das finnische Gesundheitswesen als in dieser Hinsicht sehr weit fortgeschrittenes System beschrieben. Die bedeutend höhere Anzahl an gesunden Lebensjahren generell in den skandinavischen Ländern ist eine Kennzahl, die eindeutig für eine Modernisierung spricht.
Wie Sie bereits erwähnten, ist für Ärzt*innen in Primärversorgungseinheiten (PVE) die Diagnosecodierung schon jetzt vorgeschrieben. Welche Erfahrungswerte gibt es hier bereits?
Die Erfahrungen aus der Primärversorgung geben Rückschlüsse, wie eine Ausrollung auf das gesamte niedergelassene System erfolgen soll. Es braucht jedenfalls eine gute Begleitung und Schulung für die Ärzt*innen, die den Umstieg in die Medizin des 21. Jahrhundert vollziehen sollen. Ich bin da aber positiv, denn die Ärztekammer betreibt eine sehr professionelle Akademie, die hier hilfreich beiseite stehen kann.
Bis wann rechnen Sie mit einer landesweiten Umsetzung?
Eine landesweite Umsetzung braucht sicherlich einiges an Übergangsregelungen, um die Vertragspartner*innen nicht zu überfordern, aber auch einen klaren Zeitplan, damit wir die gesundheitspolitischen Vorteile und die Verbesserungen für die Versicherten nicht auf den Sankt Nimmerleinstag verschieben.
Text: Rosi Dorudi; Fotos: www.depositphotos.com
Andreas Huss, MBA
Arbeitnehmer*Innen-Obmann der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK)
Huss hat sich nach der Ausbildung zum Tischler in der Gewerkschaftsjugend engagiert und ist heute leitender Sekretär in der Gewerkschaft Bau-Holz. 2008 absolvierte er das MBA-Studium mit Schwerpunkt Health Care Management. Von 2013 bis 2019 war Huss Obmann der Salzburger Gebietskrankenkasse. Seit Jänner 2020 ist er als Arbeitnehmer*innen-Vertreter turnusmäßig immer in der zweiten Jahreshälfte Obmann der Österreichischen Gesundheitskasse.