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Österreich
24.11.2021

"Das Krankenhaus wird zum Datenzentrum"

Wie sieht das Krankenhaus der Zukunft aus und welche Rolle kommt künftig den Patient*innen zu, welche den Mitarbeiter*innen? Diesen Fragen ging Markus Müller, der Rektor der MedUni Wien, in seinem Vortrag über die Medizin der Zukunft nach.

„Ich denke, dass es weltweit einen Markt für vielleicht fünf Computer gibt.“ Diese Aussage von IBM-Vorstand Thomas Watson im Jahr 1943 zählt heute zu einer der legendärsten Fehleinschätzungen der IT-Geschichte. „Neue Technologien und die Geschwindigkeit, mit der sie eingeführt werden, wurden seit jeher unterschätzt“, leitet Markus Müller seinen Online-Vortrag „Diagnose Umbruch: die Medizin der Zukunft“ ein.

Der Rektor der medizinischen Universität Wien wagt in dieser Veranstaltung der Vinzenz Gruppe einen Ausblick darauf, wie das Krankenhaus der Zukunft aussehen wird und an welcher großen Schwelle die Medizin heute steht. 

The Human Brain Project

Während bis vor kurzem noch kein Computer an die Rechenleistung des menschlichen Gehirns herankam, lassen sich mittlerweile realistische Vergleiche ziehen. Nach der Entschlüsselung des menschlichen Erbguts im Rahmen des Human Genome Projects, strebt man mit dem Human Brain Project die Computersimulation des menschlichen Gehirns an. 

Mit einem künstlichen Gehirn, das das menschliche Organ Zelle für Zelle in einem Supercomputer simuliert, könne man künftig experimentieren wie mit einem echten Hirn, so die Annahme. Es bräuchte keine Tierversuche mehr und Krankheiten wie Alzheimer und Parkinson ließen sich besser untersuchen.

Auch wenn diese „Mondfahrt der Hirnforschung“, die von der EU 2013 gestartet wurde, ihre Zielsetzung nach unten korrigieren musste, so treten wir mit den neuen digitalen Technologien und der Entwicklung der Biotechnologie „möglicherweise in eine völlig neue Ära ein“, erwartet Müller. 

Der Mensch als Datensatz

Während die Umsetzung von Muskel- in Maschinenkraft Gegenstand der industriellen Revolution war, so verwandelt die digitale Revolution Gedanken in Künstliche Intelligenz. Eine Entwicklung, die die Medizin von Grund auf verändern wird. Historisch betrachtet lässt sich die medizinische Erforschung des Menschen laut Müller in unterschiedliche Stadien einordnen. 

Im 18. Jahrhundert begann der anatomische Reduktionismus mit der Erforschung von Körperteilen, Organen und Geweben. Mit der Erfindung des Elektronenmikroskops folgten im 20. Jahrhundert große Fortschritte in der Zellforschung, im 21. Jahrhundert brachte die Sequenzierung von DNA und RNA wesentliche Einsichten in die Evolution des Menschen.

In der digitalen Medizin der Zukunft finde der bislang extremste Reduktionismus statt, so Müller. Der Mensch wird künftig als Datensatz dargestellt und erforscht. Er existiert als Avatar im Metaversum und kann in Echtzeit untersucht und diagnostiziert werden. 

Die patientenzentrierte Medizin von morgen

Diese Entwicklung wird die krankenhauszentrierte Medizin von heute in eine patientenzentrierte verwandeln. Hier lassen sich unterschiedliche Trends beobachten. Durch Mobile Health und Digitalisierung wird das gesundheitliche Selbstmanagement durch die Patient*innen zunehmen. Die Forschung wird Teil der Behandlung sein und zu einer zunehmend personalisierten Medizin führen. Und last, but not least: „Die Datenmedizin wird uns erlauben, sehr viel früher von der kurativen zur präventiven Medizin überzugehen“, erklärt der Uni-Rektor.

"Das Krankenhaus der Zukunft wird immer mehr zum Datenzentrum werden", erklärt Markus Müller, Rektor der MedUni Wien

Die Vision einer digitalisierten Medizin sieht Müller durchaus optimistisch. „Das Krankenhaus der Zukunft wird immer mehr zum Datenzentrum werden. Der Arzt wird viel informierter sein und Zeit haben, mit dem Patienten ein Gespräch zu führen.“ Es werde personalisierte Prognosen auf Basis von vielen Daten geben. „Das wird die Beziehungskultur zwischen Arzt und Patient stärken.“ 

Experten gehen davon aus, dass alle Berufe, die direkt mit Menschen zu tun haben, am längsten überleben werden. „Die Pflege wird ein Innovationsfeld sein“, sagt Müller. Der Beruf des Health Care Workers wird sich etablieren und die aktuell geltende Hierarchie im Krankenhaus und die Qualifikationsspirale abschaffen.

Das Medizinstudium der Zukunft

Dementsprechend wird sich auch die medizinische Ausbildung verändern. „Was früher das Mikroskop für den Mediziner war, mag in Zukunft der Computer sein“, prognostiziert Müller. Die medizinische Universität habe sich seit ihrer Gründung dramatisch verändert, und werde das auch in Zukunft tun, denn: „Die Medizin ist immer im Wandel.“

Elemente der Digitalisierung und neue Fächer wie etwa die molekulare Präzisionsmedizin wurden mittlerweile ins Studium integriert. In vielen Bereichen abseits der Chirurgie „wird es künftig nicht mehr nötig sein, dass Studierende die gesamte Anatomie auswendig lernen müssen“.

Wo Gefahren lauern

Potenzielle Gefahren in der Entwicklung des Gesundheitssystems sieht Müller vor allem im Ökonomisieren der Medizin, was den Effekt des Rosinenpickens von privatisierten Trägern begünstige. „Studien zeigen, dass Systeme wie in den USA wesentlich ineffizienter sind als in Ländern mit einem sozialen Gesundheitssystem“, so der Mediziner. Eine Grafik der Research-Plattform „Our World in Data“ zeigt, dass die durchschnittliche Lebenserwartung der Bevölkerung bei geringeren öffentlichen Ausgaben im Gesundheitsbereich deutlich niedriger ist.

Patient*innen würden immer mehr Selbstverantwortung für ihre Gesundheit übernehmen. Dies sollte durch die Allgemeinbildung dringend forciert werden und bereits im Volksschulalter ansetzen. "Der Biologieunterricht in der Schule muss so gestaltet sein, dass nicht mehr hinterfragt werden muss, was RNA ist", sagt Müller.

In Anbetracht der vierten Welle in der Coronapandemie sieht er vor allem die Mitwirkung des mündigen Bürgers gefordert. Derzeit würden zu viele darauf vertrauen, dass sie vom Gesundheitssystem aufgefangen werden. „Wenn wir künftig diese Mündigkeit nicht erreichen, werden wir zurückfallen.“

Text: Gertraud Gerst; Bilder: Medizinische Universität Wien, pixabay

Markus Müller, Univ.-Prof. Dr.med.univ.

Rektor der MedUni Wien

Müller ist Professor für innere Medizin und klinische Pharmakologie. Seit 2015 ist er Rektor der Medizinischen Universität Wien, 2018 wurde er auch zum Präsidenten des Obersten Sanitätsrates gewählt. Er hat etwa 200 wissenschaftliche Publikationen veröffentlicht, unter anderem im New England Journal of Medicine.

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