INnovation
Gesundheit
Österreich
20.02.2023

Community Nurses als Gesundheitsdrehscheibe in Wiener Bezirk

Wohnortnah, niederschwellig, präventionsorientiert: Vor dem Hintergrund der Herausforderungen, vor denen unser Gesundheitssystem steht, werden das künftig entscheidende Faktoren für Gesundheitsangebote sein. Sie stehen auch im Mittelpunkt des EU-geförderten Community-Nurse-Pilotprojekts „Grätzlpflege Landstraße“ im dritten Wiener Gemeindebezirk, für das sich der Fonds Soziales Wien (FSW) mit dem Gesundheitspark Herz-Jesu Wien zusammengetan hat. Das Ziel: die Gesundheit der Anrainer*innen proaktiv zu stärken.

Im November 2022 wurde der Stützpunkt im Gemeindebau Rabenhof eröffnet. Projektleiterin Gabriele Wiederkehr berichtet im Interview mit INGO, wie sie und ihr Team dem umfassenden Konzept Schritt für Schritt Gestalt geben.

Frau Wiederkehr, vor gut einem Jahr wurden österreichweit 123 Community-Nurse-Projekte seitens der EU bewilligt, „Grätzlpflege Landstraße“ ist eines davon. Was hat sich seit dem Startschuss getan?

Gabriele Wiederkehr: Der Startschuss, sprich die Bewilligung der Finanzierung unseres Projekts durch die Europäische Kommission, hat zunächst einmal eine intensive Vorbereitungsphase eingeleitet – mit vielfältigen Abstimmungsprozessen zwischen dem Fördernehmer Fonds Soziales Wien und dem Kooperationspartner Gesundheitspark Herz-Jesu Wien und später auch uns Community Nurses vor Ort. Dann ging es an die Einrichtung der Räumlichkeiten im Gemeindebau Rabenhof. Bis kurz vor der Eröffnung am 22. November haben wir noch Bilder aufgehängt, Computer installiert und natürlich fleißig die Werbetrommel für diese Auftakt-Veranstaltung gerührt. Jetzt heißt es, die Anrainer*innen bedarfsgerecht in Gesundheits- und sozialen Fragen zu begleiten, zu beraten und zu unterstützen. Letztlich geht es darum, die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung zu stärken und ihr mehr gesunde Lebensjahre zu ermöglichen. Ein Schwerpunkt aller 123 EU-geförderten Projekte liegt dabei auf Menschen über 75 Jahren. Als Team teilen wir uns hier zu viert ein Vollzeitäquivalent. Der 50.000 Quadratmeter große Gebäudekomplex mit 78 Stiegen und über 1.100 Wohnungen steht als unsere Homebase im Mittelpunkt unserer Aktivitäten. Wir beziehen allerdings auch die gesamte Umgebung mit ein, auf gut Wienerisch „das Grätzl“.

Das Projekt sieht eine große Bandbreite an Aktivitäten vor – von Gesundheitsstammtischen, Themenveranstaltungen, Bewegungskursen bis hin zu bedarfsgerechter Beratung und präventiven Hausbesuchen. Was waren die ersten Schritte? Haben sich schon konkrete Bedarfe herauskristallisiert?

Wir hatten bis jetzt drei Gesundheitsstammtische und führen bereits Einzelgespräche mit Bewohner*innen des Rabenhofs und teilweise Angehörigen. Wobei es im Moment so ist, dass die betreffenden Angelegenheiten an uns herangetragen werden, denn die präventiven Hausbesuche sind ja etwas, das auf Anfrage durchgeführt wird. Darum werben wir gerade mit einer Posterkampagne des Fonds Soziales Wien unter dem Motto „Gesund im Rabenhof“ für unser Angebot und weisen dabei auch darauf hin, dass es diese Hausbesuchsmöglichkeit gibt. 

Uns ist klar, dass die Bewohner*innen eine Aufwärmphase brauchen, sie müssen uns zunächst besser kennen lernen, Vertrauen fassen. Zu den ersten Schritten zählt auf jeden Fall, unsere gesundheitsfördernden Angebote bekannter zu machen, Beziehungen aufzubauen und den Menschen eine eventuelle Scheu zu nehmen. In diesem Sinne hat sich unser Kontakt zur Rabenhof-Mieter*innenbeirätin Lydia Woronin als ausgesprochen wertvoll erwiesen. Sie kümmert sich schon seit Längerem um Nachbar*innen und weiß daher um viele Sorgen und Nöte von Bewohner*innen. Auch zum langjährigen Bezirksinspektor Herrn Wondratschek haben wir bereits einen guten Draht gefunden. Interessant für uns ist auch das Projekt „Gemeinsam sicher“ der Polizei.

Die Themen, die sich fürs Erste herauskristallisiert haben, sind zum Beispiel häusliche Gewalt, Alleinleben mit Schizophrenie, Nachbarschaftskonflikte durch Lärm, aber auch konkrete Ängste, etwa vor einem Herzinfarkt, oder Probleme mit Inkontinenz. Unser Ansatz ist, dass wir uns der individuellen Problemstellung der Menschen annehmen, egal ob es um gesundheitliche oder psychosoziale Aspekte geht. Diese hängen ohnehin oft zusammen. Durch unseren professionellen Hintergrund als diplomierte Gesundheits- und Krankenpfleger*innen bzw. Community Nurses betrachten wir die Dinge aus einer unabhängigen Perspektive und können entsprechend lösungsorientiert handeln. So denken wir zum Beispiel beim Stichwort „Belästigung durch lautes Fernsehen“ nicht als Erstes an Streitintervention, sondern an mögliche Hördefekte. Eine gesundheitliche Lösung, in einem solchen Fall vielleicht ein Hörgerät, kann ja in der Folge auch in sozialer Hinsicht einen Win-win-Effekt haben.

"Unser Ansatz ist, dass wir uns der individuellen Problemstellung der Menschen annehmen, egal ob es um gesundheitliche oder psychosoziale Aspekte geht."

Neben den Entlastungs- und Beratungsgesprächen oder auch Kontaktaufnahmen mit Hilfseinrichtungen wie dem psychosozialen Dienst, der bestens etabliert und vernetzt ist, können wir auch unmittelbar mit Veranstaltungen auf Themen reagieren. Zu Herzinfarktvorbeugung etwa hatten wir schon im Februar einen Informationsnachmittag. In den kommenden Monaten wird es Vorträge zu Sturzprävention, Schlaganfall, Typ-2-Diabetes und Blaseninkontinenz geben. Die Termine – und übrigens auch unsere Sprechstundenzeiten und Kontaktdaten – sind auf der Seite www.community-nursing.wien des Fonds Soziales Wien unter dem Button „3. Bezirk“ abrufbar.

Welche Rolle spielt die Qualifikation der Community Nurses?

Eine sehr große. Es ist nicht von ungefähr, dass solche Unterstützungs-, Beratungs- und Präventionsaufgaben, wie wir sie hier übernommen haben, von Community Nurses durchgeführt werden. Die dreijährige Ausbildung zum gehobenen Dienst der Gesundheits- und Krankenpflege und mindestens zwei Jahre Berufserfahrung sind eine Grundvoraussetzung für diese Arbeit. Zum Berufsprofil zählen neben dem fachlichen Wissen auf jeden Fall Projektmanagement- und Vernetzungsfähigkeiten, die Bereitschaft, selbstständig zu arbeiten, und ein proaktiver, kreativer, systematischer Umgang mit Herausforderungen. Wenn das Projekt nach dem Pilotzeitraum mit Ende 2024 in einen Regelbetrieb übergehen soll, empfiehlt sich auch einer der fachspezifischen Masterabschlüsse. Diese werden in Zukunft für Pflegeberufe bedeutsamer werden.

Welchen Mehrwert bringt der Stützpunkt Rabenhof den Anrainer*innen zusätzlich zur öffentlichen Gesundheitsversorgung?

Der Mehrwert besteht darin, dass wir eine niederschwellige regionale Anlaufstelle für die Anrainer*innen sind. Hier finden sie fachlich kompetente Hilfe in den verschiedensten gesundheitlichen und psychosozialen Lebenslagen, aber auch Anregungen, Informationen und Anleitungen. Wir ersetzen keinen Rettungs- oder mobilen Pflegedienst, aber stehen in direktem Austausch mit den Menschen und schauen, was sie wirklich brauchen. Unter anderem dadurch, dass wir Teil eines Netzwerks sind, wissen wir außerdem, an welche weiteren Einrichtungen sie sich in ihrer jeweiligen Situation am besten wenden können. In Form des Gesundheitsparks Herz-Jesu hat unser Team eine große Bandbreite an Expert*innen zur Verfügung, von Mediziner*innen bis zu Physiotherapeut*innen. Darüber hinaus haben wir uns bereits mit vielen Gesundheitsdienstleister*innen, Ärzt*innen und Stakeholder*innen des Bezirks vernetzt. Hier kommt uns viel Offenheit entgegen. Neben den medizinischen Aspekten geht es auch ganz oft um handfeste Alltagsfragen. Wer ist ein*e geeignete*r Ansprechpartner*in, wenn jemand nach einer Hüftoperation nicht mehr über den Badewannenrand steigen kann? Wo bekommt man Förderungen für entsprechende bauliche Maßnahmen? Wo ist eine Heimhilfe vonnöten und wie kommt die betreffende Person dazu? Wurde nach einer Spitalsentlassung ein Pflegegeldantrag oder ein Antrag auf Erhöhung des Pflegegelds gestellt oder benötigt der oder die Betroffene Hilfe dabei? Hier ist zum Beispiel eine Kontaktaufnahme und Abstimmung mit dem Entlassungsmanagement des betreffenden Krankenhauses sinnvoll. Kurzum: Wir agieren nicht allein auf weiter Flur, sondern sind Teil eines größeren Ganzen. Und innerhalb von diesem eine Art Drehscheibe.

"Wir agieren nicht allein auf weiter Flur, sondern sind Teil eines größeren Ganzen."

Wie läuft es mit der Vernetzung mit den potenziellen Kooperationspartner*innen in der nahen Umgebung?

Diese läuft erfreulich gut. Wir wurden freundlich aufgenommen im Grätzl, viele Gesundheitsdienstleister*innen aus der Umgebung sind zur Eröffnung gekommen, auch Vertreter*innen der Bezirkspolitik. Wir führen derzeit viele Gespräche mit Vereinen und Einrichtungen aus der direkten Nachbarschaft wie den Wohnpartnerinnen und dem Pensionist*innenclub des Kuratoriums Wiener Pensionistenhäuser, der Caritas socialis, dem psychosozialen Dienst, dem Café Memory der evangelischen Pfarrgemeinde, der Nachbarschaftshilfe, dem Wiener Hilfswerk und der bereits erwähnten Bezirkspolizei. Wir freuen uns über Synergien und laden auch selber Ansprechpersonen ein, zum Beispiel den Verein „StoP – Stadtteile ohne Partnergewalt“. Die Kooperation mit diesem mündet in naher Zukunft in einer gemeinsamen Veranstaltung zum Thema Gewalt. Die weitreichende lokale Vernetzung hilft uns, neue Angebote zu schaffen, die für die Menschen interessant und spannend sind. Und nicht zuletzt, diese bekannt zu machen, indem wir unsere Folder bei den anderen Anbieter*innen auflegen dürfen.

Welche Angebote sind gerade in Planung? 

Im Konzept für unser Projekt sind Bewegung und Mobilisation ein wesentlicher Teil. In dieser Hinsicht planen wir gerade Angebote für Menschen mit neurologischen Beeinträchtigungen, bei denen Bewegung im Zentrum steht. Tanz zum Beispiel, der auf diese Zielgruppe zugeschnitten ist, kann nicht nur den Gesundheitsstatus verbessern, sondern macht auch Spaß und ist ein soziales Ereignis. Natürlich beraten wir auch zu Problemen des Bewegungsapparats wie Rückenschmerzen oder Sturzprophylaxe. In weiterer Folge wollen wir uns außerdem um die berufstätige Bevölkerung kümmern und Programme zur Gesundheit am Arbeitsplatz anbieten. Weiters denken wir daran, vermehrt Kontakt mit den Migrant*innen im Grätzl zu suchen. Im Gespräch mit ihnen wollen wir herausfinden, welche Projekte wir für ihre speziellen Bedürfnisse entwickeln könnten. 

Haben sich auch unerwartete Fragen aufgetan, für die man noch Lösungen finden müsste?

Ein sehr großes Problem ist der Mangel an Barrierefreiheit im Rabenhof. Menschen mit Rollstühlen oder Kinderwägen müssen diese in einem Container im Hof abstellen, aber wie soll beispielsweise ein*e Rollstuhlfahrer*in dann von dort in die Wohnung gelangen? Wir versuchen, die zuständigen Stellen darauf aufmerksam zu machen, haben aber bislang noch kein Gehör gefunden. 

Eine andere Sache, mit der ich als Projektleiterin nicht so sehr gerechnet habe, ist das Ausmaß der zeitlichen Ressourcen, die interne Abstimmungs- und Kommunikationsprozesse bei solchen großen Kooperationsprojekten tatsächlich erfordern. Hier wäre es sinnvoll gewesen, ein extra Vollzeitäquivalent nur für diese Aufgaben zu beantragen. Das geht hinterher leider nicht mehr, aber man könnte das als Learning für zukünftige Projekte mitnehmen: bei der Planung der notwendigen Kapazitäten nicht nur die fachliche Arbeit, sondern auch die dahinterstehende Bürokratie und Berichtslegung stärker einzukalkulieren. 

Weiß man schon, wie es nach Auslaufen des Projektzeitraums mit Ende 2024 weitergehen soll?

Wir hoffen natürlich, dass der Stützpunkt im Rabenhof erhalten bleibt. Auf jeden Fall wird man aber die Erfahrungen und die Inhalte aus diesem Projekt in die Zukunft mitnehmen können. Der Gesundheitspark Herz-Jesu wird ab 2025 mit einem vergleichbaren, allerdings dann nicht mehr EU-finanzierten Community-Nurse-Projekt in einem 200 Quadratmeter großen Gesundheitszentrum im Neubau „Village im Dritten“ vertreten sein, der gerade errichtet wird. Ich halte das für einen sehr wichtigen, eigentlich sogar unverzichtbaren Beitrag zu einem Gesundheitssystem, das den Herausforderungen der Zukunft aktiv begegnet. Ich glaube, vor dem Hintergrund des demografischen Wandels, des Pflegekräftemangels, der Pensionierungswelle der Hausärzt*innen ohne ein zahlenmäßig adäquates Nachrücken jüngerer Kolleg*innen und der überlasteten Spitäler werden wir mehr Primärversorgungszentren, Community-Nurse-Stützpunkte und selbstständig agierende gehobene Gesundheits- und Krankenpflegepersonen mit Kassenverträgen brauchen. In den letzten 20 Jahren wurde die Pflege akademisiert, jetzt geht es darum, ihr so wie allen anderen anerkannten Gesundheitsberufen ein selbstständiges, autonomes Arbeiten zu ermöglichen. Davon können unter anderem Community-Nurse-Teams profitieren. Der regionale, das Gesundheitssystem entlastende Ansatz, den Community Nurses verfolgen, ist zukunftweisend.

Interview: Uschi Sorz: Fotos: Die Elfe, 2017; privat

Gabriele Wiederkehr, MSc

Projektleiterin des Community-Nurse-Pilotprojekts „Grätzlpflege Landstraße“

Wiederkehr ist Gründungsmitglied (2003) und langjährige Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft des Österreichischen Gesundheits- und Krankenpflegeverbandes (ÖGKV) für freiberufliche Pflege. Seit 1983 ist sie DGKP und seit 1992 akademisch geprüfte Lehrerin für Gesundheits- und Krankenpflege. 2016 schloss sie das Masterstudium in Pflegepädagogik an der Universität Graz ab. Sie leitete zahlreiche Pflegeprojekte der Stadt Wien. Außerdem ist sie selbstständige Unternehmerin, Pflegeexpertin und seit 2003 Lehrgangsleiterin der Weiterbildung gemäß § 64 Gesundheits- und Krankenpflegegesetz (GuKG) „Komplementäre Pflege – Therapeutic Touch“ (www.zentrum-lebensenergie.at) sowie Fachbuchautorin („Berührende Pflege – Therapeutic Touch“, Springer Verlag 2021). Seit 2021 ist sie auch Kooperationspartnerin des Gesundheitsparks Herz-Jesu in Wien. 

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