„Wir sollten das Ohr am Herzen des Menschen haben“
Anfang Dezember hat Petra Andrea Huchler im Vorstand des Barmherzige Schwestern Krankenhauses Wien das Wertemanagement übernommen. Welche Bedeutung Werte im Gesundheitswesen haben, ob die Digitalisierung ein Allheilmittel ist und was Corona an der Diskussionskultur verändert hat, erzählt die Theologin im Interview.
Das Wertegerüst der Vinzenz Gruppe basiert auf sieben christlichen Eckpfeilern und fünf Werten. Die sieben Eckpfeiler sind Zuwendung, Einbeziehung der psychischen und geistig-seelischen Verfassung, Angebote, die Antwort auf die Not der Zeit sind, eine Kultur im Umgang mit Sterbenden und mit dem Tod, Werte-orientiertes Führen, Entscheidungen auf Basis ethischer Grundlagen sowie die Verwurzelung in christlicher Wertorientierung. Die fünf Werte sind barmherzige Liebe, Hochachtung und Herzlichkeit, Wahrhaftigkeit, soziale und ökonomische Verantwortung und der Glaube.
Sie waren zuletzt hauptberuflich für die Erzdiözese Wien tätig und haben im Dezember im Vorstand des Barmherzige Schwestern Krankenhauses Wien das Wertemanagement übernommen. Wie unterschiedlich sind diese beiden Tätigkeiten?
Petra Andrea Huchler: Ich habe mir die Unterschiede größer vorgestellt, als sie letztendlich sind. Ich bin dem kirchlichen Milieu treu geblieben, nur eben in einem ganz anderen Wirkungsbereich.
Welche Bedeutung haben Werte im Jahr 2024 im Gesundheitswesen?
Europa wurde früher als „christliches Abendland“ bezeichnet, heute befinden wir uns im postchristlichen Zeitalter, das sich ständig weiterentwickelt und sich transformiert. Umso mehr brauchen wir Werte, um einen Rahmen zu finden, in dem wir uns alle wiederfinden können. Das ist meine feste Überzeugung. Und was sind diese Werte, in denen wir uns alle wiederfinden? Je unterschiedlicher die Kulturen, die Ethnien, die Sprachen sind – wo können wir einander letztendlich treffen? Genau dafür brauchen wir Werte, die wir gemeinsam tragen können, damit sie uns verbinden.
Das Wertegerüst der Vinzenz Gruppe basiert auf sieben christlichen Eckpfeiler und fünf Werten. Was ist für Sie die Essenz dieses Wertekanons?
Wir dürfen diese Werte nicht nur vor dem christlichen Hintergrund sehen, denn diesen Hintergrund haben viele nicht mehr. Vielmehr müssen wir akzeptieren, dass der andere ganz anders sein kann als ich, und natürlich trotzdem eine Berechtigung hat, zu sein. Wir müssen uns überlegen, was wir dem anderen an Werten überstülpen wollen und wo wir ihn einfach so sein lassen, wie er ist. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, das ist für mich eine wesentliche Botschaft des Christentums. Da müssen wir uns treffen, denn jeder Mensch trägt das Angesicht Gottes in sich.
"Jetzt wird diese Ganzheitlichkeit langsam wiederentdeckt."
Die Vinzenz Gruppe legt auch großen Wert auf die ganzheitliche Betrachtung des Menschen.
Diese Ganzheitlichkeit gewinnt immer mehr an Bedeutung. Dabei war das alles schon einmal da, es ist nur durch die Gnosis auseinandergerissen worden. In der Zeit des Wirkens Jesu und der jüdischen Tradition gab es noch diesen Zusammenhang von Geist, Körper und Seele, das war eins. Das ist dann immer weiter voneinander getrennt worden. Aber jetzt wird diese Ganzheitlichkeit langsam wiederentdeckt, es ist heutzutage hip, den Menschen mit seinem ganzheitlichen Ansatz zu denken.
Sind all diese Werte in Stein gemeißelt oder gibt es hier einen ständigen Entwicklungsprozess?
Es gibt Werte, die nicht verhandelbar sind, wie zum Beispiel die unantastbare Würde des Menschen. Aber wie man Werte lebt, wie man sie in einem Krankenhaus in einen Kontext bringt, das muss immer wieder neu geprüft werden, weil sich auch die medizinische Versorgung ständig weiterentwickelt. Werte dürfen nicht abgehoben sein, sie müssen geerdet und im Alltag eines Krankenhauses lebbar sein.
Die Welt ist im Umbruch, kriegerische Auseinandersetzungen verbreiten weltweit Leid und Schrecken, neue Technologien verdrängen alte, der Planet Erde stößt an seine Grenzen. Wo sehen Sie vor diesem Hintergrund die größten Herausforderungen für das Wertegerüst im Gesundheitswesen?
Das ist gerade die Gretchenfrage. Wo stehen wir, wo wollen wir hin? Und was sind Werte? Ich glaube, es würde uns allen nicht schaden, wenn es wieder eine gewisse Relativierung gäbe. Es muss nicht immer alles um jeden Preis sein. Was ist das richtige Maß? Es ist für mich ein Wert, dieses richtige Augenmaß zu behalten. Wir sollten das Ohr am Herzen des Menschen haben. Was tut ihm gut? Was braucht er und wo ist es vielleicht auch nicht mehr gut? Ja, es geht um das rechte Maß, eine gesunde Mitte.
Das Wertemanagement der Vinzenz Gruppe wird auch immer wieder mit ganz konkreten Problemstellungen konfrontiert, etwa dem assistierten Suizid. Wie ist dazu ihre Position?
Gesetzlich ist der assistierte Suizid erlaubt. Einerseits will man den Menschen in dem achten und ernst nehmen, was er möchte. Wenn Menschen äußern, dass sie sterben möchten, muss man fragen, warum sie das möchten. Oft hört man von sterbenskranken Patientinnen oder Patienten, dass sie wieder leben wollen, wenn sie die richtige Medikation bekommen. Übersetzt heißt es ja, „so will ich nicht mehr leben.“ Andererseits müssen wir uns auch fragen, ob wir das Leben einem Schöpfer zu verdanken haben, es damit an sich überhaupt zur Disposition steht, und wo Schieflagen entstehen können, indem ein Mensch nach seinem Nutzen bemessen und zum Kostenfaktor wird, weil er alt und/oder krank ist. Ich frage mich auch, wie hier mit Patientinnen und Patienten mit neurologischen oder psychiatrischen Erkrankungen, wo der Wunsch oder Wille des Patienten oder der Patientin nicht eindeutig geäußert werden können, umgegangen wird.
Die Digitalisierung gilt als potenzieller Problemlöser in vielen Bereichen des Gesundheitswesens. Wie sehr beschäftigt Sie dieses Thema?
Schon sehr, weil wir alle von einer Zukunft reden, von der wir nicht wissen, wie sie sein wird. Wir trauen den Menschen im Rahmen dieser Digitalisierungsprozesse immer mehr Verantwortung und Reife zu. Wenn ich dann aber beobachte, wie Menschen miteinander umgehen, lässt mich das zweifeln, ob sie diese Reife jemals erreichen werden oder ob wir da nicht zu viel voraussetzen. Schon bei Volksschulkindern ist zu beobachten, dass die meisten ein Smartphone besitzen und auch bedienen können, die Regeln eines guten Miteinanders jedoch nicht mehr gelernt werden. Wohin soll das führen?
"Ich frage mich, ob durch die Digitalisierung nicht ein Stück weit eine Komponente verloren geht, die eigentlich zur Heilung beitragen könnte."
Kann Digitalisierung nicht auch zu Entfremdung führen?
Der Mensch ist ein Beziehungswesen. Der Mensch wird am Du zum Ich. Dieser Satz des jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Wird nicht gerade im Gesundheitswesen oft der Mensch gesucht, der Arzt, der zuhört? Früher sprach man von einer heilenden Berührung des Arztes. Heute stellt man mehr und mehr fest, dass dies durchaus seine Berechtigung haben kann, weil Menschen sich nach Berührung sehnen. Ich frage mich, ob durch die Digitalisierung nicht ein Stück weit eine Komponente verloren geht, die eigentlich zur Heilung beitragen könnte.
Aber sollte nicht gerade durch den Einsatz von Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz bei administrativen Tätigkeiten Zeit gewonnen werden, die dann wieder den Patientinnen und Patienten zugute kommt?
Lassen Sie mich das retrospektiv betrachten. Wir haben zu Hause Waschmaschinen, Geschirrspüler und sonst noch jede Menge Technik. Haben wir deswegen de facto wirklich mehr Zeit, die wir dann auch noch qualitätsvoll verbringen? Ich meine nein. Zurück zum Gesundheitswesen: Was tun wir mit dieser gewonnenen Zeit? Wie gehen wir damit um? Bedeutet es aufgrund des immensen Kostendrucks nicht automatisch, noch mehr Patienten und Patientinnen betreuen zu müssen, was im Umkehrschluss den Mitarbeitenden schadet?
Der Respekt vor anderen Menschen, insbesondere vor Menschen anderer Hautfarbe oder anderen Glaubens, nimmt ab. Täuscht dieser Eindruck?
Im Jahr 2022 gab es circa 78.800 Gewaltdelikte in Österreich, es ist evident, dass Respekt ein großes Thema ist. Und das betrifft bei weitem nicht nur andere Hautfarben oder Religionen, das ist nur eine Dimension der ganzen Geschichte. Speziell seit der Corona-Pandemie ist zu bemerken, dass nicht mehr diskutiert, sondern polarisiert wird. Für mich als Absolventin einer Geisteswissenschaft, die das Diskutieren und Philosophieren noch von den alten Griechen gelernt hat, ist das eine schmerzhafte Entwicklung. Denn das Erringen einer gemeinsamen Haltung, im Hören auf den Anderen, in welcher keiner die absolute Wahrheit besitzt, ist immer noch der Mühe wert, miteinander zu reden, um Kompromisse für ein höheres Ziel als nur den eigenen Horizont einzugehen. Nun, allein an diesem Kommentar ist zu erkennen, wessen Geistes Kind ich bin.
Interview: Karl Abentheuer; Fotos: Robert Harson/BHS Wien, privat;
Petra Andrea Huchler, Mag.
Vorständin für Wertemanagement des Barmherzige Schwestern Krankenhauses Wien
Huchler studierte Katholische Theologie an der Universität Wien und war seit 2010 in verschiedenen Bereichen der Erzdiözese Wien tätig, unter anderem in der Jugendarbeit, im Opferschutz, im Ehrenamt, in der Strukturveränderung und in der Begleitung von Priestern aus verschiedenen Kontinenten und Kulturen, die in der Erzdiözese tätig sind. Zuletzt leitete sie ab September 2021 die Priesterbegleitung der Erzdiözese Wien. Huchler ist Mutter von drei Töchtern und lebt mit ihrer Familie im Westen Wiens.